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Die falsche Ökonomisierung
WIRTSCHAFT | ZUR DEBATTE (06.12.2009)
Von Michael Billig
Die Ökonomisierung der Wissensgesellschaft treibt an den Hochschulen wilde Blüten. Nicht die Freiheit der Forschung, sondern ihre Verwertbarkeit rückt in den Vordergrund. An die Stelle von Bildung junger Menschen tritt ihre Berufsbefähigung. Der Schweizer Ökonom Bruno Frey spricht daher von einer „falschen Ökonomisierung“. Auch andere Wissenschaftler lehnen diese Entwicklung ab.

Barbara Hempel

Gottfried Wilhelm Leibniz - sein Denkmal an der Uni Leipzig erinnert an die "guten" alten Hochschulzeiten. (c) Barbara Hempel

Wissen sei in der Gesellschaft als handelsfähige Ware entdeckt worden, sagte der Konstanzer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß jüngst auf einem Kongress an der Universität Leipzig. Mittelstraß kritisierte, dass die Wissenschaft unter ein Diktat von Ökonomie und Wettbewerb zu fallen drohe. Rankings, Benchmarks und Evaluierungen nannte er Maltretierwerkzeuge. Ratingagenturen hätten längst einen eigenen Markt, die Ökonomie habe sich verselbstständigt. Drittmittel bezeichnete der Leibniz-Preisträger als „Götzen“ einer Universitätsstatistik.
In diese Kritik stimmte der Schweizer Ökonom Bruno Frey ein. Ihm zufolge sind Wissenschaftler zunehmend damit beschäftigt, ihre Publikationen in Fachzeitschriften zu zählen. „Es wird die kleinste publizierbare Einheit gesucht“, erklärte Frey. Denn sie flössen als Bewertungskriterien in Berufungsverfahren von Professuren und in die Rankings ein, Buchveröffentlichungen beispielsweise nicht.

Ökonomisch, aber unwissenschaftlich

Studierende wiederum jagten nur noch nach Punkten. „Sie wollen möglichst schnell, möglichst gezielt das Studium absolvieren“, so der Hochschullehrer von der Universität Zürich weiter. Das sei zwar ökonomisch und unter den vorgegebenen Rahmenbedingungen auch nachvollziehbar, zeigte Frey Verständnis. Aber diese Form des Studierens und Forschens habe immer weniger mit Wissenschaft zu tun.
Die Umsetzung der Bologna-Reform in Deutschland ist offenbar symptomatisch. Hans Joachim Meyer, einst Wissenschaftsminister in Sachsen, machte darauf aufmerksam, dass die Hochschulen durchaus Spielraum gehabt hätten, den Bachelor über vier Jahre anzubieten. Doch der Ruf in Deutschland nach jüngeren Absolventen war so laut, dass überall das Turbo-Studium geschaffen wurde. Und wer schneller studiert, koste den Staat weniger, so auch eine Rechnung, die angesichts des Ansturms, den die Hochschulen derzeit erleben, eine Rolle gespielt haben soll.

Wirtschaft auf Distanz zum Bachelor

Während Politik und Hochschulen sich nun den „Schwarzen Peter“ gegenseitig zuschieben, müssen Generationen von Studierenden fürchten, ohne einen anerkannten Abschluss dazustehen. Der Bachelor genügt derzeit weder dem wissenschaftlichen Anspruch noch bereite er den Nachwuchs ausreichend auf den Arbeitsmarkt vor, wie Karen Horn vom Institut der deutschen Wirtschaft auf dem Leipziger Kongress verlauten ließ.
Ideen und Konzepte sind dringend gefragt. Schlankere Studienordnungen sowie eine transparente und effiziente Hochschulverwaltung wären schon mal ein Anfang und eine Art von Ökonomisierung, wie sie Zuspruch von verschiedenen Seiten erfährt.
Forschung und Lehre in Erlösen aufzuwiegen, sei hingegen eine Fehlsteuerung, wie die Gastgeber des Kongresses, die Wirtschaftswissenschaftler Ralf Diederich und Ullrich Heilemann, in einem offiziellen Statement bekräftigen. Die Hochschulleitungen fordern stattdessen mehr Geld aus der öffentlichen Hand.
Auf einem Podium in Leipzig war die Rede von der Umverteilung der Mittel vom Bereich des Sozialen in die Bildung. Auch die Möglichkeit der Erhebung von Hörergeld oder Studiengebühren machte die Runde. Für die Studierenden wiederum ist Besserung erst in Sicht, wenn ihnen mehr Mitsprache an den Hochschulen eingeräumt wird.

Weiterführende Links
http://www.zv.uni-leipzig.de/Universität Leipzig
http://www.uni-leipzig.de/wissensgesellschaft2009/Kongress: Die Ökonomisierung der Wissensgesellschaft
   










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