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Hitler in der Pizza-Schachtel
KULTUR | KUNSTPROJEKT (22.08.2012)
Von Jörg Rostek
Man nehme ein Künstlerduo und einen Pizzabäcker - fertig ist die Pizza Provokation: Mit der Pizza im Karton bekommen hungrige Mäuler Hindenburg und Hitler vorgesetzt. Sie lauern als Siebdruck unter dem Pizzaboden. Doch nicht Verfassungsschützer, sondern Lebensmittelkontrolleure haben sich jetzt eingeschaltet.

iley.de

Vorn Appetitverderber Hindenburg, beim Blick nach hinten links kommt einem das Kotzen. (c) iley.de

Eine Chronologie der Ereignisse:

Münster, Samstag, 28. Juli: Das Künstlerduo JaePas übergibt - unter Anwesenheit der Presse - die Edition "La deutsche Vita" an Giuseppe Tedesco (übersetzt: Josef, der Deutsche), dem Inhaber der Pizzeria Peppino zur Auslieferung an die Kundinnen und Kunden. Die Edition besteht aus 1.000 manuell mit dem Siebdruckverfahren gestaltete Pizzakartons. In der Deckelinnenseite ist im Standardlayout eines Pizzakartons "La deutsche Vita" zu lesen. Auf dem Kartonboden befindet sich der Siebdruck einer Fotografie des "Tags von Potsdam" vom 21. März 1933: Reichspräsident Paul von Hindenburg hat gemeinsam mit dem Reichskanzler Adolf Hitler in der Garnisonskirche einen Gottesdienst besucht. Im Vordergrund steht Hindenburg hinter ihm in Wartestellung: Adolf Hitler. Das Foto ist in einem Rund und würde von einer Pizza überdeckt. Über dem Motiv ist zu lesen: "Bürgerentscheid 16. September 2012 - Nein zu Hindenburg!" Unter dem Druck sind die Autoren und die Unterstützer und Förderer des Kunstprojekts "sozialpalast 2012" genannt.

Schimpfe für den Pizzabäcker

Montag, 30. Juli: Als der Inhaber der Pizzabäckerei Peppino, Giuseppe Tedesco, den täglichen Betrieb aufnehmen will, entdeckt er an Fenstern und Auslieferungsfahrzeugen angebrachte Pro-Hindenburgplatz-Aufkleber. Im Laufe des Tages erreichen ihn zwei anonyme Anrufe, deren einziger Inhalt persönliche Beschimpfungen sind. Guiseppe Tedesco informiert darüber die Medien. Er verurteilt die Provokationen ("Ich bin Demokrat!") und reagiert: er erweitert seine Speisekarte um die "Schlossplatz-Pizza", belegt mit "Spinat, Käse von Schafen, pikanter Salami und Hinternschinken von Hindenburg"

Die Kontrolleure kommen

Dienstag, 31. Juli: Angestellte des Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsamtes erscheinen in der Pizzeria Peppino für eine außerordentliche Kontrolle der Pizzakartons. Guiseppe Tedesco demonstriert bereitwillig das Verfahren der Auslieferung. Das Amt bestätigt ihm schriftlich, dass keinerlei Beanstandung festgestellt wird, da jeder Pizza ein verpackungsübliches Trennpapier untergelegt ist. Im Laufe des Tages kommen gezielt Besucherinnen und Besucher und erbitten ein kostenfreies Exemplar der Edition von JaePas "La deutsche Vita"; darunter auch zu Dokumentationszwecken eine Vertreterin des Stadtarchivs Münster.

Kartons werden beschlagnahmt

Pizzakartons beschlagnahmt: Kurator (v.l.), Anwalt, Künstler und Pizzabäcker beraten, was jetzt zu tun ist. Foto: Rostek

Mittwoch, 1. August: Das Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsamt erscheint erneut in der Pizzeria Peppino; diesmal mit der Vorgabe, zwei Pizzakartons zu Analysezwecken zu beschlagnahmen. Guiseppe Tedesco wird unter Hinweis auf mögliche Sanktionen (Geldstrafe) angehalten, keine weiteren Kartons auszuliefern. Die Kontrolleure überlassen ihm ein verplomptes Beweisstück. Laut Auskunft des Amtes ist mit einem Untersuchungsergebnis erst nach verstreichen von sechs Wochen zu rechnen. Am gleichen Tag entscheiden Guiseppe Tedesco, der Veranstalter "sozialpalast 2012" und die Künstlergruppe JaePas gemeinsam jeder Bestellung ein Exemplar der Edition "La deutsche Vita" (leer) bis zur Aufhebung der Quarantäne beizulegen. Umgehend informieren sie das Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsamt über die Zusammensetzung der Druckfarbe, um das Analyseverfahren zu beschleunigen. Im Vorhinein wurde den Künstlern die Unbedenklichkeit der Farbe für "food und toys" vom Hersteller schriftlich bescheinigt. Wie auch am Tag zuvor hatte Guiseppe Tedesco die Presse bereits über den aktuellen Stand informiert.

Auch ein Ministerium in der Pizza-Schachtel

Donnerstag, 2. August: Im Laufe des Vormittags bekommen der "sozialpalast 2012" und JaePas Anrufe vom Dezernat für Schule, Kultur und Sport der Bezirksregierung Münster. Von Düsseldorf aus sei durch den Staatssekretär für Kultur NRW darauf hingewiesen worden, dass das Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen als Förderer des "sozialpalasts 2012" auf den Pizzakartons genannt worden sei. Der Bezirksregierung lägen, so der aufgebrachter Anrufer, keine Beweise für eine solche Förderung vor. In den darauf folgenden Telefongesprächen bestätigt der Veranstalter "sozialpalast 2012" wiederholt die offizielle Förderung durch das Bundesland Nordrhein-Westfalen und unterstreicht, dass er als Kurator des Kunstprojekts "Pizza, Pasta, Kunst und BASTA!" dazu verpflichtet sei, alle Förderer zu nennen. Während dessen befindet sich Guisppe Tedesco, Inhaber der Pizzeria Peppino, mit mehreren Medienvertreterinnen und Medienvertretern, darunter der WDR, im Interview. Als JaePas und der Organisator des "sozialpalastes" eintreffen, berichtet er von der Intervention des Lebensmittelkontrollamts.

Wurden Lebensmittelkontrolleure missbraucht?

Freitag, 3. August: "Wurde Amt missbraucht?" mutmaßt die Presse am folgenden Tag. Die Zeitung "Westfälische Nachrichten" kommentiert, es sei "Misstrauen angesagt". Angesichts der Umstände falle es schwer "sein Misstrauen gegen diese obrigkeitsstaatliche Maßnahme zurückzuhalten." Und sie fragt weiter: "Sollen hier die kleinen Leute schikaniert werden, die sich mit politischen Aktionen an einer demokratischen Auseinandersetzung beteiligen?" Die SPD meldet sich zu Wort. Ihr Fraktionsvorsitzender im Stadtrat, Holger Wigger, zeigt sich verwundert über die Aktivitäten des städtischen Lebensmittelüberwachungsamtes und äußerte den Verdacht, "dass hier das Amt für einen anderen Zweck als den der Lebensmittelüberwachung instrumentalisiert wurde". Er habe einen Fragebogen an den Oberbürgermeister Markus Lewe (CDU) geschickt, in dem er um Aufklärung bitte. Die Stadt Münster reagiert prompt und betont in Person des Personaldezernenten, Stadtrats und ehemaligen SPD-Oberbürgermeisterkandidaten Wolfgang Heuer, dass das Ordnungsamt das Ausliefern der bedruckten Pizzakartons nicht verboten habe. Die "Nutzung der Kartons seitens der Lebensmittelüberwachung seien nicht verboten worden. Giuseppe Tedesco habe "vielmehr von sich aus entschieden, bis zum Abschluss der Farb-Untersuchung auf die Verwendung zu verzichten", so Heuer. Dem widerspricht der Pizzabäcker. "Mir hat der Kontrolleur auf jeden Fall gesagt, dass ich keine Pizza darin ausliefern darf", sagt er der Münsterschen Zeitung. Inzwischen wird auf facebook und in Internetforen der Fall diskutiert. Bald fällt zum ersten Mal die Bezeichnung "Pizzagate".

Laborergebnis

Donnerstag, 16. August: In einer Pressemitteilung veröffentlicht die Stadt Münster das Ergebnis der Laboruntersuchung des Lebensmittelkontrollamts. Sie schreibt: "Bei dem Pizzakarton, der im Rahmen einer Kunstaktion von innen mit einem Hindenburg-Foto bedruckt ist, bestehen für die Pizza-Konsumenten keine Gefahren. Es muss allerdings ein Pergamentbogen zwischen Pizza und Kartonboden gelegt werden." Ausdrücklich weist das Lebensmittelkontrollamts darauf hin, dass das Bedrucken der Innenseite einer Lebensmittelverpackung "unerwünscht" ist.
Das Amt sei durch Medienberichte auf die Kunstaktion aufmerksam geworden.

Künstlerduo fühlt sich ausgenutzt und schutzlos

Dienstag, 21. August: Auf einer Pressekonferenz ergreift Jae Pas die Chance, eine Stellungnahme zu den Ereignissen abzugeben. Die Künstlergruppe betont, dass die Edition "La deutsche Vita" mehr sei als ein bedruckter Pizzakarton. Die Reaktionen auf das Werk gehörten genauso dazu, weil sie "Interessen und Mächte offenbaren", so Künstler Jan Enste. Oft würden Künstlerinnen und Künstler von diesen Interessen vereinnahmt.
Jae Pas selbst sei seit der Veröffentlichung der Edition mehrfach instrumentalisiert worden - vom Pizzabäcker ("der uns nutzt, um für sich zu werben"), von der SPD ("die uns nutzt, um für sich zu werben) und von den Medien ("die uns nutzen, um ihre Geschichten zu schreiben, oft in einer ignoranten Haltung").
Die Künstler betonen, dass sie sich um Münster sorgten. Denn zahlreiche Menschen würden dem Bürgerentscheid "bewusstlos" gegenüberstehen und "Interessen und Mächte" nicht erkennen. Daraus bestehe die Gefahr, von diesen für ihre Zwecke benutzt zu werden. In der Auseinandersetzung um den Hindenburgplatz sei dies die "Macht des rechten Lagers". Ob "CDU, Heimatverein, Junge Union, Burschenschaften, etc"; durch ihr Engagement für den Namen Hindenburgplatz würden sie "Tore für Rechtsextremismus und paradoxerweise trotz Bürgerentscheid für anti-demokratische Strömungen und Totalitarismus" öffnen.
Abschließend weist Jae Pas noch darauf hin, dass es vor allem Künstlerinnen und Künstler seien, die unter totalitären Systemen stark gelitten hätten und immer noch leiden. "Wir Künstler haben keine Macht, wir sind schutzlos. Nur die Gesellschaft kann uns schützen. Wo uns der Schutz der Gesellschaft verlässt, sind wir den Mächten, die wir benennen und die sich durch unsere Arbeit offenbaren, hilflos ausgeliefert."

Weiterführende Links
http://www.jaepas.de/Künstlerduo JaePas
   








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