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Im Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 2
REISE | REISETAGEBUCH (28.05.2012)
Von Frank Fehlberg
Im zweiten Teil der Reise durch das Gastgeberland der Fußball-EM geht es in die Umgebung Danzigs: Nach Pommern im Nordwesten, in die hügelige Kaschubei, ins Kulmer Land, ins Weichseldelta und zur mächtigen Marienburg.

Auch die weitere Umgebung Danzigs bietet dem willigen Reisenden einen reich gedeckten Tisch der Entdeckungen. Das ist vor der Abfahrt zu einer Landpartie durchaus wörtlich zu nehmen. Die anstrengenden und an Eindrücken überreichen Ausflüge sollte man mit einem echten polnischen Frühstück beginnen, welches das continental breakfast des weltweiten Hoteleinheitsbreis hinter sich lässt. Brötchen und Marmelade am Morgen sind des Polen Sache nicht. Dagegen finden sich exzellente Wurst – so etwa gerne mal warme Blutwurst – und flüssig gehaltenes Rührei mit Schinkenspeck auf der Frühstückskarte. Solchermaßen gestärkt kann der Danzigbesucher zwischen verschiedenen Landschaftstypen und kulturell unterschiedlich geprägten Ausflugszielen wählen.

Die Idylle Hinterpommerns

In Pommern, genauer: Hinterpommern, erwartet ihn eine „Sandbüchse“, wie sie in Deutschland in Brandenburg oder Mecklenburg vorzufinden ist. In den Sommermonaten wird die polnische Ostseeküste von dichten Massen anspruchsloser Vergnügungstouristen heimgesucht. Der kurzfristig angelegte Abzocktourismus hinterlässt Spuren, die in vielen kleineren Küstenstädten und -orten keinen besonders aufgeräumten Eindruck machen. Bis heute ist es diesem seit jeher weit abgelegenen Gebiet nicht gelungen, den Reichtum seiner Natur in Wohlstand vor Ort umzumünzen. Wer Ruhe und Entspannung in den endlosen Weiten Pommerns sucht, der sollte es unmittelbar vor und nach der Hauptsaison mit dem Fahrrad bereisen. Neben nicht gerade einladenden Küstenabschnitten, die vielfach von der chaotischen Bauwut ihrer Bewohner und ortsfremder Saison-Profiteure zeugen – übrigens ein Problem, dessen unansehnliche Ergebnisse überall im Land mal mehr oder weniger gehäuft auftreten – gibt es pralle und unberührte Natur zu erleben. Auf mancher Nehrung wähnt sich der Wanderer in einer Sahara aus weißem Sand.


Die Ortschaften Pommerns sind während des Zweiten Weltkriegs stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Wo die selbstzerstörerischen Verteidigungsmaßnahmen endeten, begannen die Russen mit der systematischen Zerstörung der alten Wohnsubstanz zur Vertreibung der Deutschen und mit der Neuansiedlung von Polen, die zur Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs aus dem Osten ihres Landes vertrieben wurden. Die Maßnahmen sind oft der Grund für die teilweise grotesk anmutenden Stadtbilder, die zwischen historischen Backsteinbauten und gealterten Wohnkästen à la Neubaugebiet oszillieren. Ein Streifzug von Kolberg (Kołobrzeg) über Köslin (Koszalin) und Stolp (Słupsk) bis nach Lauenburg (Lębork) erinnert vor allem den deutschen Besucher daran, welche Idylle in Pommern verlorenging.

Ein eigenes Völkchen – Die Kaschuben

Von Danzig aus ist es ein Katzensprung in den wohlhabenden Speckgürtel und landschaftlich sehr attraktiven Naherholungsraum der Kaschubei. Die Kaschuben, seit jeher ein eigenständiger Menschenschlag zwischen Deutschen und Polen – teilweise sind Ortschaften zweisprachig polnisch und kaschubisch ausgewiesen –, wussten sehr viel besser als die polnischen Neusiedler im nördlichen Pommern, den Wohlstand, der aus dem Tourismus und der Nähe zu Danzig entspringt, zu halten. Stolze Eigenheime, selten nur die üblichen polnischen Bauruinen, und der Feierabendverkehr, der sich aus Danzig in die liebliche kaschubische Hügel- und Seenlandschaft hinaus quält, zeugen von ungleich stabileren Verhältnissen als in Hinterpommern. Die Landschaft lädt zu langen Fahrrad- und Bootstouren wie auf der Mecklenburgischen Seenplatte ein, mit dem Unterschied, dass hier keineswegs ein flaches Land die Anstrengungen in Grenzen hält.

Das Kulmer Land an der Weichsel

F. Fehlberg

Das Kopernikusdenkmal vor dem Rathaus der Stadt Thorn. Über die ethnische Herkunft des Astronoms streiten sich Polen und Deutsche bis heute. Der vielfach überlieferte Name des Vaters, Koppernigk, lässt natürlich nur einen Schluss zu. (c) F. Fehlberg

Im Süden Danzigs sind mit der neuen Autobahn A1 dagegen bequem die größtenteils erhalten gebliebenen Städte Thorn (Toruń) und Kulm (Chełmno) zu erreichen. Thorn, die Geburtsstadt von Nikolaus Kopernikus, bietet als Universitätsstadt mit einem Flair zwischen Kleinstadt zum Wohlfühlen und Weltstadt mit familiärem Antlitz eine Ahnung von der alten Pracht des Deutschordenslandes.Die Weichsel, die hier und im Kulmer Land einige landschaftlich schöne Bögen schlägt, sorgte für die Verbindung mit dem Ostseehandel und damit nicht nur zu kulturellem Reichtum.Dringt man zwischen den sehr sauber sanierten Satellitenstädten endlich bis zur Innenstadt vor, versteht man sehr schnell, weshalb die UNESCO Thorn den Weltkulturerbetitel verliehen hat. Das junge und internationale Publikum in den Straßen erinnert eher an dasjenige in der galizischen Großstadt Krakau (Kraków) denn an die eher als gesetzt zu charakterisierenden Touristenströme in und um Danzig. Ein Abstecher in die nicht weit entfernte Kleinstadt Kulm im Norden lohnt sich ebenfalls. Das einstmals namensgebende Zentrum des Kulmer Landes thront weithin sichtbar malerisch über dem Weichseltal und lockt wie Thorn mit einer sehenswerten Altstadt, auch wenn die Sanierung der Bauten nicht so weit fortgeschritten ist wie in der Universitätsstadt im Süden.

Machtdemonstration Marienburg

Südwestlich von Danzig kann man tiefer in die Geschichte des Deutschordenslandes eintauchen. Von allen erhaltenen Ritterburgen in der Gegend ist die Marienburg die bedeutendste (in der gleichnamigen Stadt, poln. Malbork). Als die deutschen Kreuzritter im Heiligen Land ihre Ambitionen gescheitert sahen, fanden sie im Schwemmland der Weichsel ihre neue Heimstatt. Die jahrhundertelange Vormacht des Deutschen Ordens in diesem Gebiet lässt sich an der Massivität und der Weitläufigkeit der Marienburg ermessen. Hierher verlegten die Deutschordensritter 1309 ihren Hauptsitz – und gaben dafür ihr Domizil in Venedig, dem damaligen Hauptausgangspunkt für Pilgerfahrten ins Heiligen Land, auf. Die mediterrane Hochkultur wurde gegen die Wildnis eingetauscht, aus der mit viel Geduld und noch mehr roten Backsteinen eine neue Kulturwelt geschaffen wurde. Dass ihnen eine aufsteigende Handelsstadt, die nahe Hansestadt Danzig, ihren Einfluss im Weichselland bald streitig machen sollte, haben die Ritter trotz aller militärischen Stärke nicht verhindern können. Der letzte Hochmeister des Ordens, Albrecht von Hohenzollern, führte 300 Jahre nach Ansiedlung der Kreuzritter im Prußenland 1525 die Reformation ein und wandelte den Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum um: Preußen war geboren.

Von dem einstmaligen Vorreiterland der Reformation ist heute nichts mehr zu sehen. Zwar gibt es noch eine evangelische Kirchenorganisation in der Region – polnische Pfarrer halten die Predigten in deutsch –, doch die Gottesdienstbesucher nehmen an Zahl so kontinuierlich ab wie sie an Durchschnittsalter zunehmen. Viele Kreuze an den Straßen und noch mehr Marienkirchen lassen den protestantischen Gast die Endgültigkeit spüren, mit welcher der lutherische Glaube aus einer seiner angestammten Regionen entwichen ist. In Danzig ist die Erinnerung an den Kampf gegen das Regime Jaruzelskis ohne katholische Märtyrer wie den Solidarność-Kaplan Jerzy Popiełuszko undenkbar. Nur wer ganz genau hinschaut, entdeckt so manche evangelische Spur inmitten von urpolnischem Marienkult. So findet sich etwa in der Marienkirche in Schlawe (Sławno) eine würdige Erinnerung an den in Breslau geborenen deutschen Geistlichen Dietrich Bonhoeffer, der in Pommern ab 1937 die illegale Pfarrausbildung innerhalb der Bekennenden Kirche leitete.

Fußballurlaub? In die Verlängerung gehen!

Wer nur wegen des Fußballs nach Polen reist, wird der Vielfältigkeit und der historischen Bedeutung dieses Landes für die europäische Geschichte ganz sicher nicht gerecht. Der Norden um Danzig ist nur eine der Regionen, die einen ausgeprägten Reisehunger hervorrufen. Die Aufenthalte im Stadion und das Sattsehen an der europäischen Fußballkunst kann nur den kleineren Teil eines „gewinnenden“ Aufenthaltes ausmachen. Es gibt viel zu entdecken, viel zu „erfahren“, vieles zu schmecken, was in 90, 120 oder auch mehr Minuten nicht annähernd abgedeckt werden kann. Polen sollte aus Anlass der Europameisterschaft dichter an das deutsche Gemüt heranrücken, als es das bis heute auf der inneren Landkarte der Deutschen geschafft hat. Nicht nur im Norden, Süden und Westen finden wir kulturelle wie geistige Freunde – der Osten wartet auf unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.
   




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