Bedingt verhandlungsbereit
POLITIK | BÜRGERKRIEG IN SYRIEN (20.02.2016)
Von Uli Cremer und Wilhelm Achelpöhler | |
In wenigen Tagen gehen in Genf die Verhandlungen um eine Lösung des Syrienkonfliktes in eine neue Runde. Wir analysieren die Interessenlagen und Machtverhältnisse und erklären, warum Kriegsparteien wie der IS aber auch die syrischen Kurden nicht mit am Verhandlungstisch sitzen. Kaum hatten sie begonnen, sind die Genfer Gespräche zur Lösung des Syrienkonflikts schon wieder unterbrochen. Hierzulande wird Russland die Schuld gegeben. Denn das Assad-Regime habe parallel zu den Verhandlungsbemühungen in Genf mit Hilfe der russischen Luftwaffe eine neue Militäroffensive gestartet. Und zwar wieder gegen die "Falschen", also die mit dem Westen befreundeten Rebellen statt gegen den IS. Zehntausende fliehen vor den Luftangriffen und Kämpfen um Aleppo Richtung Türkei. 300.000 Menschen in Aleppo droht die Belagerung durch die Assad-Truppen. »Wir sind in den letzten Tagen nicht nur erschreckt, sondern auch entsetzt, was an menschlichem Leid für Zehntausende Menschen durch Bombenangriffe entstanden ist, vorrangig von russischer Seite«, lässt sich Kanzlerin Merkel ein. (tagesschau.de 8.2.16) Mangelnde Verhandlungsbereitschaft auf allen Seiten Tatsächlich war es nur mühsam und zeitlich verzögert gelungen, das von Saudi-Arabien im Dezember geschmiedete Oppositionsbündnis ("Hohes Verhandlungskomitee" = HNC) zu einer Reise nach Genf zu bewegen. Die oppositionelle Reisegruppe legte Wert darauf, dass sie nur Gespräche führen, aber nicht in Friedensverhandlungen eintreten würde. Die Bereitschaft zu Letzteren war bisher stets mit der Vorbedingung verknüpft worden, dass Assad vorher abtreten müsste. Die schnelle Abreise wurde dann so begründet: "Wir sind hierhergekommen, um eine politische Lösung und ein Ende der Belagerungen zu erreichen, stattdessen weitet das Regime seinen Militäreinsatz aus." (FAZ 4.2.16) Aus Protest reise man wieder ab. Dass die neuen Vorbedingungen des Oppositionsbündnisses bis zum 25. Februar erfüllt sein werden, ist unwahrscheinlich. Dann sollen nach Ankündigung des UN-Vermittlers de Mistura nämlich die Gespräche in Genf wieder aufgenommen werden. So richtig zufrieden war aber auch die syrische Regierungsseite nicht. Sie beschwerte sich über Terroristen im von Riad geschmiedeten Oppositionsbündnis. »Mit diesen "Terroristen" werde man "niemals verhandeln", betonte Dschaafari.« (taz 5.2.16) Er ist der Verhandlungsführer des Assad-Regimes. Auch Moskau sträubt sich dagegen, »bedeutende islamistische Rebellengruppen wie Ahrar al Scham oder Dschaisch al Islam, die zum Teil wichtige Gegenden Syriens kontrollieren, als Verhandlungspartner anzuerkennen. Wie in Genf zu hören ist, ist Moskau inzwischen allerdings bereit, Vertreter der Gruppen "als Einzelpersonen" als Gesprächspartner zu akzeptieren.« (FAZ 4.2.16) Die taz charakterisierte die Ahrar al- Scham im Juli 2015 übrigens so: Sie »setzt sich für einen islamischen Staat in Syrien ein und will die Scharia einführen. Innerhalb des syrischen Kontexts gilt sie als eine gemäßigtere Alternative zum Islamischen Staat (IS) und der mit al-Qaida verbündeten Nusra-Front, wiewohl diese Gruppen gemeinsame Militäraktionen durchführen. Alle drei Organisationen sind Ziele von US-Luftangriffen.« (taz 16.7.15) Und stehen entsprechend auf der US-Terrorliste. Praktischerweise ist an den Genfer Gesprächen noch ein weiteres Oppositionsbündnis beteiligt, mit denen sich das Assad-Regime nicht im Krieg befindet. Aber diese Gespräche könnten genauso gut in Damaskus stattfinden. Da die beiden syrischen Hauptformationen in Genf, also Assad-Regierung und HNC von ihren jeweiligen Sponsoren (hier Westen plus Golfmonarchien, dort Russland und Iran) mehr oder weniger in ihren Positionen unterstützt wurden, blieb Vermittler de Mistura nichts Anderes übrig, als die Konfliktbearbeitung erst einmal in den Sponsorenkreis zurückzuverweisen: Dieser heißt seit Herbst 2015 "Internationale Syrien-Unterstützungsgruppe" (ISSG) und vereinigt alle internationalen Interventionsakteure von Washington bis Moskau und von Teheran bis Riad. Außerdem soll der UNO-Sicherheitsrat die Lage beraten. Die Hoffnung besteht darin, dass die Sponsoren ihre jeweiligen Schützlinge zu mehr Kompromissbereitschaft bewegen. Allerdings hat die US-Regierung zunehmend Schwierigkeiten, die eigene Klientel auf eine konstruktive Linie zu verpflichten. Bei der syrischen Opposition nimmt die »Wut auf die Obama-Administration zu, die sich scheue, sich Putins Umtrieben in Syrien entgegenzustellen«. Dazu passen »Berichte über eine Konfrontation zwischen dem amerikanischen Außenminister John Kerry und syrischen Aktivisten während eines Empfangs anlässlich der jüngsten Geberkonferenz in London. Sie sollten nicht ihm die Schuld an der desaströsen Lage der Assad-Gegner geben, sondern die Opposition für das Scheitern der Gespräche zur Rechenschaft ziehen, hat Kerry seinen syrischen Gesprächspartnern dem Vernehmen nach gesagt.« (FAZ 8.2.16) "Geopolitische Hölle" und weitere militärische Eskalation Die gegenwärtige militärische Offensive des Assad-Regimes richtet sich gegen Rebellengebiete in und um Aleppo, aber auch im Süden Syriens. taz-Journalist Andreas Zumach hegt den Verdacht, »dass Moskau nicht (mehr) auf den Erhalt Syriens in seinen bisherigen Grenzen setzt, sondern auf die Schaffung eines Rumpfstaats im Westen. Dazu würden mit Aleppo, Idlib, Mama, Homs, Damaskus und Dara fast alle größeren Städte des Landes gehören. Zwecks Sicherung dieses Rumpfstaats würden starke militärische Kräfte Russlands auf den Marine- und Luftwaffenstützpunkten in Tartus und bei Latakia stationiert. Die übrigen drei Viertel des syrischen Territoriums blieben dann dem "Islamischen Staat", dem Al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front und anderen zum Teil bislang von Saudi-Arabien, Katar und der Türkei gesponserten islamistischen Rebellen- und Terrorgruppen überlassen. Nicht auszuschließen, dass sich die USA und ihre westlichen Verbündeten bei einem weiteren Scheitern des Verhandlungsansatzes eines Tages auf dieses Szenario einlassen.« (taz 8.2.16) Das würde allerdings bedeuten, dass die internationalen Sponsoren den Regime Change in Damaskus ad acta legen würden. Aber werden die westlichen und arabischen Sponsoren die Niederlage der Rebellen zulassen, die in westlichen Medien als »humanitäre und geopolitische Hölle« (FAZ 10.2.16) bezeichnet wird? Bei allen medialen Spekulationen, dass das Assad-Regime mit der gegenwärtigen Militäroffensive die entscheidende Siege einfährt, ist es keineswegs so, dass die Rebellen und ihre internationale Unterstützer militärisch am Ende sind. Sie haben drei Optionen in der Hinterhand: 1) Lieferung von Flugabwehrwaffen an die Rebellen, damit sie sich gegen die russischen Luftangriffe zur Wehr setzen können 2) Entsenden eigener Bodentruppen zur Unterstützung der Rebellen gegen das Assad-Regime 3) Luftunterstützung für die Rebellen durch Luftangriffe auf militärische Kräfte des Assad-Regimes Nach den Flugabwehrwaffen haben die Rebellen immer wieder verlangt, sie aber nicht erhalten. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens versuchen die westlichen Regierungen den Konflikt mit Russland nicht weiter militärisch zu eskalieren. Der Abschuss eines russischen Jets durch die Türkei war schon Hazardspiel genug. Zweitens wissen die westlichen Waffenlieferstaaten aus der Erfahrung der letzten Jahre, dass die gelieferten Waffen regelmäßig in den "falschen" Händen landen, also beim IS oder anderen Terrororganisationen. Diese könnten dann mit den entsprechenden Waffen am Ende auch US-amerikanische oder französische Bomber abschießen. Wenn man sich auf die "eigenen" Rebellen samt ihrer Verbündeten (wie der Al Qaida-Ableger Al Nusra) nicht verlassen möchte, bleiben die riskanten Optionen, selbst Luftangriffe auf die Assad-Truppen und ihre Verbündeten am Boden zu fliegen oder eigene Bodentruppen zu entsenden. In diesem Zusammenhang ist die Ankündigung Riads zu sehen, man wäre bereit im Kampf gegen den IS saudische Bodentruppen beizusteuern. Der aus der Türkei berichtende taz-Korrespondent Jürgen Gottschlich verweist auf »eine Meldung der regierungsnahen Zeitung "Yeni Șafak", dass ein von Saudi-Arabien gegründete muslimisch-sunnitische Anti-IS-Bündnis sich auf einen Einsatz von Bodentruppen in Nordsyrien vorbereite. Nach der von "Yeni Șafak" verbreiteten Meldung geht es dabei aber nicht um einen Anti-IS-Einsatz. Stattdessen wollen die Saudis an der Spitze einer sunnitischen Allianz mit türkischer Unterstützung gegen die Assad-Allianz mit Iran und Russland antreten. Denn "wenn Aleppo fällt", so zitiert "Yeni Șafak" einen Kommandeur der Anti-Assad Kämpfer in Aleppo, sei der Aufstand in Syrien am Ende.« (taz 8.2.16) Den gleichen Verdacht hegt der FAZ-Korrespondent Rainer Hermann: »Riad muss erst noch zeigen, was es mit seiner Ankündigung bezweckt, Bodentruppen nach Syrien zu entsenden - ob sie tatsächlich gegen den IS kämpfen sollen oder aber gegen das Bündnis des Regimes mit Russland und Iran.« (FAZ 9.2.16) Das Eingreifen türkischer Truppen in den Syrienkrieg ist wahrscheinlicher, da logistisch schneller umsetzbar. Der türkische Ministerpräsident Davutoglu versprach bereits, »Ankara werde Aleppo schützen.« Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, »man verdächtige die Türkei, einen Einmarsch in Syrien vorzubereiten. Moskau hatte den türkischen Streitkräften zuvor schon vorgeworfen, Stellungen der Regimetruppen zu beschießen, was Ankara bestritt.« (FAZ 10.2.16) Ob derartige abenteuerlichen Pläne umgesetzt werden, hängt von der Beantwortung dieser prinzipiellen Frage ab: Handelt Moskau aktuell aus einer Position der Stärke oder der Schwäche? Wie andere Energieexporteure leidet Russland unter dem extrem niedrigen Ölpreis. Bereits 2015 ist die russische Wirtschaft um 3,9 Prozent geschrumpft, die Devisenreserven reduzieren sich. Im Haushalt klafft ein Loch von 36 Mrd. Euro. Die russischen Ressourcen sind mit Sicherheit eher erschöpft als die der arabischen Kontrahenten, von denen der westlichen Mächte ganz zu schweigen. Das Zeitfenster, um militärisch in die Vorhand zu kommen, ist also für Moskau eher klein. Ein jahrelanger Krieg ist nicht zu finanzieren und durchzuhalten. Schon der Vorgängerstaat Russlands, die Sowjetunion, wurde in den 1980er Jahren nicht zuletzt durch den saudischen Ölpreiskrieg ruiniert. Damals kurbelte Saudi-Arabien die Ölförderung so stark an, dass der Ölpreis unter 20 US-Dollar sank, im April 1986 sogar unter 10. Auch heute versucht Saudi-Arabien wieder Konkurrenten durch Ausweitung der Förderung in den Ruin zu treiben. Der Ölpreis ist von über 100 auf 30 US-Dollar gesunken. Wie viel kostet Russland sein Militäreinsatz? »Nach Schätzungen des russischen Wirtschaftsmagazins RBC gibt die russische Luftwaffe etwa 2,5 Millionen US-Dollar pro Tag aus, das heißt etwa 225 bis 230 Millionen US-Dollar in drei Monaten.« (Sputnik 10.2.16) Pro Jahr also etwa 1 Mrd. - das fiele bei einem Rüstungsetat von ca. 85 Mrd. US-$ noch nicht dramatisch ins Gewicht. Aber vermutlich wird bei der Berechnung davon ausgegangen, dass keine weiteren russischen Jets abgeschossen werden. Daneben muss Russland auch den Rüstungsnachschub für die syrischen Regierungsgruppen finanzieren, denn das Assad-Regime ist dazu selbst nicht mehr in der Lage. Vor dem Krieg gab Damaskus pro Jahr etwa 2,5 Mrd. US-Dollar für sein Militär aus; der Krieg dürfte weit höhere Summen verschlingen. Jahrelang wird sich Russland den Krieg nicht leisten können. Doch wie agieren die Regionalmächte Türkei und Saudi-Arabien, wenn den Anti-Assad-Kämpfern in den nächsten Wochen oder Monaten die finale Niederlage droht, aber das mögliche russische Wirtschaftsdesaster Moskau erst in zwei oder drei Jahren zum Abbruch der Militäroperation zwänge? Dann muss man wohl mit jeder noch so abenteuerlichen Aktion rechnen. Nach dem russischen Eingreifen in den Syrienkrieg ist die Situation gefährlicher denn je. Und dafür ist auch Moskau in hohem Maße verantwortlich. Die Einschätzung vom Oktober 2015 erhärtet sich: »Das russische Eingreifen ist nichts anderes als ein Beitrag zur militärischen Eskalation. Das Gemetzel geht in die nächste Runde.« (siehe weiterführende Links) Verhandlungen mit dem IS? Jenseits der tagesaktuellen gegenseitigen Beschuldigungen sind die Chancen für einen Waffenstillstand und eine Friedenslösung in Syrien schlecht. Dafür gibt es folgende Gründe: Es kann keine umfassende Lösung vereinbart werden, da eine wichtige Kriegspartei nicht dabei ist: der IS. ( Zivilcourage 5/2015) Ohne ihn könnte es zwar regionale Waffenstillstände und Vereinbarungen, theoretisch sogar ein Militärbündnis zwischen den anderen Akteuren geben, aber der Krieg ginge weiter. Wie sollen da z.B. Wahlen abgehalten werden? Die im November 2015 in Wien von den internationalen Sponsoren vereinbarte "Roadmap" ist unrealistisch. Der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz Ischinger adressierte das Problem in einem Interview am 29.1.2016. Auf die Frage »Kommt man langfristig um einen Dialog mit der Terrorbande IS herum?« antwortete er: »Wenn man nicht mit den bösen Buben reden will, in einer Lage, in der ein Bürgerkrieg bereits Hunderttausende von Toten und Millionen von Flüchtlingen produziert hat, mit wem sonst will man denn reden, nicht wahr. Natürlich muss man mit allen Bösen reden.« (Deutschlandfunk 29.1.16) Um einige Stunden später allerdings wieder etwas zurückzurudern: »Ich stelle ausdrücklich fest, dass ich keineswegs Verhandlungen mit dem sogenannten Islamischen Staat vorgeschlagen habe.« (securityconference.de 29.1.16) Auch Außenminister Steinmeier warb unlängst für Realismus und stellte ähnliche Überlegungen an: »Wo sollen denn nach mehr als fünf Jahren Bürgerkrieg, extremer Gewalt und um sich greifender Verrohung die gemäßigten Kreise herkommen? Ich fürchte, wir sind weit über den Moment hinaus, wo wir uns wirklich alle Gesprächspartner und Verhandlungsteilnehmer aussuchen können.« Das gelte für das Assad-Regime genauso wie für die Opposition. Vorsichtshalber schickte er jedoch die Einschränkung hinterher: »Natürlich gehören keine Terroristen und islamistische Extremisten an den Tisch, die eine politische Lösung ja nur sabotieren wollen.« (FAS 24.1.16) Damit ist das nächste Problem angesprochen: jenseits des IS gibt es (auch nach westlicher Definition) weitere Terroristen und islamistische Extremisten, z.B. die lokale Al Qaida-Filiale Al Nusra, von der sich der IS einst abspaltete. Diese sind ebenfalls von den Gesprächen ausgeschlossen und können als relevanter militärischer Faktor alle Vereinbarungen torpedieren. Zwar haben die anderen Rebellengruppen keine Scheu mit Al Nusra zu kooperieren, aber ob sie für sie mitverhandeln können? Syrische Kurden in Genf nicht am Tisch Völlig absurd ist der Ausschluss der syrischen Kurdenmilizen (YPG) aus dem Verhandlungsprozess. Er wurde vom in Riad geschmiedeten Oppositionsbündnis verlangt, von der Türkei durchgesetzt, von Russland moniert und vom Westen toleriert - obwohl die USA auf dem Schlachtfeld seit Kobanê als Luftwaffe der YPG agieren und diese mit Waffen beliefern. Es wird den westlichen Mächte klar sein, dass die vereinbarte "Roadmap" (mit Wahlen und neuer Verfassung in 18 Monaten) ohne kurdische Beteiligung nicht funktionieren kann. Denn für einen kurdischen Staat in Nordsyrien kann bisher noch niemand plädiert. Also hatten die bisherigen Verhandlungen nur den Zweck, eine Verständigung zwischen den syrischen Oppositionskräften und der Assad-Regierung zu erreichen. Aber auch das ist bekanntlich nicht gelungen. Türkei-Politik von USA und EU Wie erwähnt, ist es das Werk Ankaras, dass keine Delegation der syrischen Kurden nach Genf eingeladen wurde. Bekanntlich hat das Erdogan-Regime im Osten des eigenen Landes im Sommer 2015 einen Krieg gegen das eigene Volk begonnen - etwas, das man im Westen üblicherweise ungeliebten Machthabern (wie Assad) als Schwerverbrechen anlastet. Aber die Türkei ist eben NATO-Partner und Verbündeter, so dass das ein oder andere Auge zugedrückt wird. Allerdings nehmen die USA und die EU-Staaten durchaus unterschiedliche Positionen ein. Die USA arbeitet mit den Kurdenmilizen in Syrien zusammen, weil diese unverzichtbarer Partner im Krieg gegen den IS sind. Dafür nimmt Washington in Kauf, dass nach jeder US-Waffenlieferung für die Kurden der US-Botschafter in Ankara von der türkischen Regierung einbestellt wird. Anfang Februar 2016 legte die US-Regierung nach. Sie schickte den US-Sondergesandten Brett McGurk zu einem Besuch in die vor einem Jahr von den Volksverteidigungseinheiten (YPG) der syrisch-kurdischen Partei PYD freigekämpfte syrische Grenzstadt Kobanê. »"Wie können wir euch trauen?", fragte Erdoğan die US-Regierung. "Bin ich euer Partner oder sind es die Terroristen in Kobanê?" Erdoğan kündigte an, die Türkei werde sich dafür einsetzen, dass die PYD von allen internationalen Organisationen als Terrororganisation anerkannt werden.« (SZ 8.2.16) Der Sprecher des US-Außenministeriums, John Kirby, bemerkte unbeeindruckt, »anders als die Türkei betrachteten die USA die PYD nicht als Terrororganisation. Kurdische Milizen gingen am effektivsten gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) in Syrien vor und würden von den USA weiter unterstützt.« (tagesschau.de 10.2.16) Die Rolle Deutschlands BotschafterInnen aus EU-Ländern werden aber in Ankara nicht einbestellt, denn ihre Länder üben den Schulterschluss mit dem Erdogan-Regierung, allen voran die deutsche Bundesregierung. Als McGurk Kobanê besuchte, packte Kanzlerin Merkel schon ihre Siebensachen für nächsten Ankara-Besuch. Obwohl die türkische Regierung einen neuen Bürgerkrieg gegen die Kurden im Südosten des Landes entfesselt hat, fanden im Januar 2016 türkische Regierungskonsultationen statt. Eine derartig enge Zusammenarbeit pflegt Deutschland natürlich nur mit sehr engen Bündnispartnern und Freunden. Als die Beziehungen des Westens zu Russland noch nicht ruiniert waren, gab es übrigens auch noch solche Konsultationen mit der Putin-Regierung. In Tradition des deutschen Kaiserreichs pflegt Deutschland auch heute wieder ein Bündnis mit der Türkei. Das osmanische Reich stieg nach dem Abgang Bismarcks und dem damit verbundenen Bruch mit dem russischen Zarenreich zu DEM deutschen Partner im Osten auf und kämpfte im 1. Weltkrieg an der Seite Deutschlands, das damals nicht nur die Augen vor dem Völkermord an den Armeniern verschloss, sondern in Form von Militärberatern und politischen Funktionsträgern aktiv mitmischte. (vgl. Jürgen Gottschlich: Das deutsche Kaiserreich und der Völkermord an den Armeniern, 2015) Über 100 Jahre später stehen Frankreich und Britannien auf derselben Seite wie Deutschland. Die gesamte EU hat im Herbst 2015 beschlossen, die Türkei mit erst einmal drei Milliarden Euro zu unterstützen. Dafür soll die Türkei syrische Flüchtlinge an der Flucht in die EU hindern. Solange die Flüchtlingsabwehr oberste Priorität der EU und Deutschlands ist, hält Ankara alle Trümpfe in der Hand: »Merkel … ist die Bittstellerin, sie muss den Türken ein Angebot machen. Die Berliner Verhandlungsposition ist in Wirklichkeit so schwach, dass die Forderung der Opposition, man möge den Türken wegen der Kurden und der Menschenrechte die Leviten lesen, weltfremd ist.« (FAZ 23.1.16) Bundesregierung unterstützt türkische Kurdenpolitik in allen Aspekten Im Zuge der Verhandlungen zwischen der EU, namentlich Deutschlands mit der Türkei, ist bisweilen der Eindruck entstanden, die Bundesregierung gäbe menschenrechtliche Standards auf, um die Türkei zu Zugeständnissen bei der Flüchtlingsabwehr zu bewegen. Der Vorwurf ist unberechtigt, denn die Bundesregierung stand schon vor der aktuellen Flüchtlingskrise eng an der Seite der Türkei, auch im Hinblick auf Syrien. Menschenrechtliche Standards spielen in der deutschen Türkeipolitik traditionell eine unbedeutende Rolle. Wenn der Chefredakteur der Zeitung "Cumhüriyet", Can Dündar, und sein Büroleiter in Ankara, Erdem Gül, Waffenlieferungen der Türkei an islamistische Rebellen in Syrien aufdecken und dafür in türkischen Gefängnissen landen, hört man von der Bundesregierung nur demonstratives Schweigen. Nicht anders, wenn es gegen kurdische PolitikerInnen geht. Deutschland unterstützt die türkische Kurdenpolitik in allen Aspekten: Erstens: Gegen die PKK - ein Schulterschluss mit Tradition Ankara geht nicht das erste Mal militärisch gegen kurdische Milizen im eigenen Lande vor. Der Bürgerkrieg hat in den letzten Jahrzehnten zehntausende Opfer gekostet. Stets wurde Ankara dabei politisch, juristisch und auch durch Waffenlieferungen unterstützt. Das PKK-Verbot gilt in Deutschland unverändert seit dem Jahr 1993. Als PKK-Milizen 2014/15 den IS in Nordsyrien und dem Nordirak erfolgreich bekämpften, entspann sich in Deutschland eine politische Debatte um die Aufhebung des Verbots, die bis in die Regierungsparteien hineinreichte. Inzwischen ist die Debatte verebbt, die Durchsetzung der Flüchtlingsabwehr dominiert alles Andere und führt zu finanzieller Hilfe für Ankara. Aber wer wird schon überprüfen, wie die Flüchtlingsabwehr-Milliarden der EU genau verwendet werden, und so verhindern können, dass sie in die türkische Bürgerkriegskasse fließen? Zweitens: Keine Unterstützung für die syrischen KurdInnen Zweitens darf den syrischen KurdInnen keine militärische und humanitäre Hilfe gewährt werden (siehe Streit Ankaras mit der US-Regierung). Für den deutschen Verfassungsschutz ist die syrisch-kurdische Miliz nichts Anderes als ein Ableger der PKK: »Während die militärischen Aktionen [der PKK] in der Türkei selbst zurückgingen, weiteten sie sich hingegen in den kurdischen Siedlungsgebieten Syriens aus. So stand im syrischen Bürgerkrieg bis Mitte 2014 der syrische Ableger der PKK, die Partei PYD ("Partei der demokratischen Union"), mit ihren bewaffneten Einheiten den islamistischen Gegnern des Assad-Regimes konfrontativ gegenüber« (BfV 2015). Insofern unterscheidet sich die Sichtweise der deutschen Bundesregierung nicht wesentlich von der des Erdogan-Regimes, das die YPG genauso als PKK-Ableger ansieht. Nur die ausdrückliche Qualifikation der YPG als Terrororganisation macht die Bundesregierung nicht mit. Insofern unterstützte Deutschland in den letzten Jahren nur Hilfsprojekte in den Provinzen Aleppo, Hama, Idlib und Daraa. Ausschließlich dort leistete »Deutschland … zwischen 2013 und 2015 Hilfslieferungen an gemäßigte Kräfte der Opposition mit dem Ziel, den Aufbau von Strukturen zu unterstützen, die in den nicht vom Regime kontrollierten Gebieten Syriens für die Bevölkerung grundlegende öffentliche Dienstleistungen und Schutz anbieten.« (pdf) Diese Hilfe wird über den "Syria Recovery Trust Fund" abgewickelt. Hauptgeldgeber sind neben den USA und Deutschland die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuwait, über die Mittelvergabe entscheiden die von der Nationalen Koalition gebildete und in Gaziantep/Türkei ansässige "syrische Exilregierung" mit. Aus der Antwort der Bundesregierung (pdf) auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke geht hervor, dass es keine gezielte deutsche Hilfe für die syrischen KurdInnen gibt. Dort wird offenbar kein "humanitärer Bedarf" gesehen. Die YPG trägt zwar die Hauptlast der Auseinandersetzung mit dem IS und hat mit militärischer Unterstützung der USA große Gebiete erobert: etwa 80 Prozent der Gebietsverluste des IS im Jahre 2015 entfallen auf die von der YPG eroberten Gebiete im Norden Syriens, darunter die strategisch wichtige Grenzstadt Tal Abyad. (IHS.com, 21.12.15) Für diese von den syrischen Kurden vom IS befreiten Gebiete gilt aus Sicht der Bundesregierung aber ganz offensichtlich nicht, was für die vom IS befreiten Gebiete im Irak gilt. Dort ist nämlich der »Wiederaufbau zurückeroberter Gebiete von großer Bedeutung«, denn es sei falsch, den »Kampf gegen Terrorismus allein auf das Militärische zu verengen«, wie Außenminister Steinmeier vor kurzem betonte. (Hamburger Abendblatt, 28.12.15) Eine Stabilisierung der kurdischen Selbstverwaltungsgebiete liegt offensichtlich nicht im Interesse der Bundesregierung, obwohl dort Zustände herrschen, die die "Welt" im Juni 2014 zu einem Artikel mit der Überschrift "Wo Syrien schon frei und demokratisch ist" (3.6.14) veranlasste. Aber die KurdInnen im Norden Syriens kommen in der deutschen Politik nicht vor, solange sie in ihrem Land ihre Lebensverhältnisse politisch selbst gestalten wollen. Erst wenn sie diesen Versuch aufgeben und ihr Land Richtung Europa verlassen, dann finden sie einen Platz auf der Agenda der deutschen Politik. Symbol dafür ist das Bild des an der Küste der Türkei ertrunkenen kleinen kurdischen Jungen aus Kobanê , das im Sommer 2015 das um die Welt ging. Wahrgenommen werden die syrischen KurdInnen als Flüchtlinge, bzw. als Flüchtlingsproblem, das man am besten dadurch löst, indem man die Türkei dafür bezahlt, die Grenze nach Europa abzuriegeln. Drittens: Unterstützung für die irakischen KurdInnen Drittens darf und sollte die EU bzw. Deutschland die Kurden im Irak unterstützen, denn diese sind mit der Türkei verbündet: »Das kurdische Öl wird über die Türkei exportiert, und türkische Unternehmer sind die wichtigsten Investoren in Irakisch-Kurdistan. Dieses ist damit politisch und wirtschaftlich ein Teil der Einflusssphäre der Türkei.« (FAZ 4.2.16) Insofern dürfte das gerade angekündigte Referendum zur Abspaltung von Kurdistan-Irak vom irakischen Zentralstaat mit Ankara abgestimmt sein. Der kurdische Machthaber Barzani hatte Ende Januar »die Ordnung, die durch das Sykes- Picot-Abkommen von 1916 geschaffen worden sei, für obsolet erklärt. Er forderte die Staatengemeinschaft auf, das Scheitern der Sykes-Picot-Ordnung anzuerkennen, und forderte sie auf, den Weg zur Gründung eines kurdischen Staates zu ebnen. Der Engländer Mark Sykes und der Franzose François Georges-Picot hatten sich 1915 in einer geheimen Übereinkunft auf die Grenzen in der Levante nach der Zerschlagung des Osmanischen Reichs geeinigt.« (FAZ 4.2.16) Den Kurden war damals von den westlichen Siegermächten ein eigener Staat verweigert worden. Bisher leistet Deutschland in Kurdistan-Irak Militärhilfe, Seite an Seite mit türkischen Militärausbildern und -beratern. Letzteres wurde einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als die türkische Armee Anfang Dezember 2015 ohne Absprache mit der formal ja noch existierenden Bagdader Zentralregierung 20 Panzer über die Grenze rollen ließ und mehrere hundert Soldaten stationierte. »Die türkische Zeitung "Hürriyet" berichtete, in Bathiqa entstehe eine Basis für sechshundert Soldaten. Grundlage sei eine Vereinbarung zwischen der türkischen Regierung und dem Präsidenten von Irakisch-Kurdistan, Masud Barzani.« (FAZ, 7.12.15) Offenbar agiert die Türkei bereits so, als sei der Irak schon endgültig in drei Teile zerfallen, einen schiitischen, einen sunnitischen (unpraktischerweise aktuell überwiegenden vom IS kontrolliert) und eben einen kurdischen, der sich eng an Ankara anlehnt, so dass die Grenzziehung von 1916 bzw. 1923/25, als die neu gegründete Türkei sie anerkannte, zumindest schon einmal an dieser Stelle korrigiert würde. Die ursprünglich vorgesehene koloniale Grenzziehung durch die Siegermächte Frankreich und Britannien wurde in dem Friedensvertrag von Lausanne von 1923 zugunsten der Türkei korrigiert. Diese beanspruchte zwar auch noch die Provinz Mossul und damit auch das heutige irakisch-kurdische Gebiet, aber diese wurde vom Völkerbund 1925 dann dem Irak zugeschlagen. Das türkische Schutzzonenprojekt in Syrien Weitere Korrekturen, ob formal bestätigt oder nur faktisch, betreffen die Grenzen der Türkei zu Syrien. Hier hat die türkische Regierung seit Beginn des Syrienkrieges auf eine Schutzzone im Norden Syriens gedrängt, die natürlich mit militärischen Kräften abgesichert werden müsste. Damit konnte sie sich bei den westlichen Bündnispartnern bisher nicht durchsetzen. Eine neue Gelegenheit bietet aus Sicht der türkischen Regierung die aktuelle Flüchtlingsbewegung aus Aleppo, ausgelöst durch die Militäroffensive der Assad-Kräfte und abgesichert durch massive russische Luftangriffe. Die Zehntausende Flüchtlinge werden nämlich von der Türkei nicht über die Grenze gelassen. Vielmehr sind auf syrischem Territorium Zeltlager errichtet worden, die von genehmen Rebellengruppen abgesichert werden. Hilfstransporte kommen aus der Türkei. Diese Flüchtlingslager werden also nicht von dem UN-Flüchtlingshilfswerk betrieben. Die syrische Regierung und Russland müssen den syrischen Souveränitätsverlust und die Proto-Schutzzone hinnehmen, es sei denn, sie richteten durch Bombardierung ein Massaker unter den Flüchtlingen an. Insofern hat die Erdogan-Regierung hier eine geschickte Falle aufgestellt. Das russische Kalkül, durch das eigene militärische Eingreifen die westlichen, türkischen und syrischen (Rebellen-)Träume von Flugverbots- und Schutzzone ein für allemal zu beenden, geht also nicht auf. Auch diese Winkelzüge türkischer Politik, die die Flüchtlinge aus Aleppo gewissermaßen als menschliche Schutzschilde für türkische Geopolitik benutzt, müssen die EU-Regierungen unterstützen, um sich in Ankara beliebt zu machen. Deutschland macht dabei den Anfang: Bei ihrem Besuch in Ankara am 8. Februar 2016 sagte Merkel zu, das deutsche THW zur Unterstützung zu schicken. Fazit Aus der "osmanischen Gefangenschaft" kann sich die EU nur befreien, wenn sie sich a) zu einer humanen Flüchtlingspolitik statt der Abwehr der syrischen Flüchtlinge durchringt, und b) es zu einer politischen Lösung in Syrien kommt, also zur Beseitigung der Fluchtursache. Doch nach Beidem sieht es derzeit nicht aus. Vielmehr ermutigt die Rückendeckung der EU und besonders Deutschlands die türkische Regierung zu weiteren abenteuerlichen Schritten im Syrienkrieg. Dieser Beitrag ist zuerst auf der Internetseite der Grünen Friedensinitiative erschienen. Die Autoren sind Mitglieder dieser Initiative. |