Glanz und Niedergang der Fanclubs
SPORT | FUSSBALL IN BRASILIEN (25.06.2014)
Von Leonor Macedo | |
Die brasilianische Journalistin Leonor Macedo ist eine Corinthiana, ein Fan des Fußballclubs Corinthians in São Paulo. Sie ist ein aktiver Fan, was als Frau in einer von Machismus geprägten Kultur nicht leicht ist. Doch es gibt noch andere Gründe, warum sich die Fanclubs in Brasilien verändern müssen. Die Fans der Corinthians im Pacaembu-Stadion (c) Anderson Bueno Pereira/Wikipedia Über Jahre hinweg ging ich zu den Spielen von Corinthians und liebäugelte immer mit dem begeisterten Rummel der Fanclubs. Ich lernte viele Leute kennen - das ist ja auch normal, wenn man sein Leben lang jede Woche zur gleichen Veranstaltung geht -, aber beigetreten bin ich erst zu Beginn des neuen Jahrtausends. So lange habe ich gebraucht, um einen Fanausweis zu beantragen, obwohl die Gaviões da Fiel mir schon viele Jahre vorher das Herz gestohlen hatten. Man kann sich einer torcida wegen des Rummels und wegen der Freunde anschließen, aber das sind nicht die Gründe, auch dabei zu bleiben. Ich kannte die Geschichte des Clubs und hatte mich in sie verliebt. 1969 wurde Corinthians von Wadih Helu geleitet, einem Abgeordneten der Arena-Partei, die damals die Diktatur unterstützte. Der Verein war in einer schwierigen Phase, weil er seit 1954 keinen Titel mehr geholt hatte. Ein paar Jugendliche, die immer zu den Spielen kamen, fingen an, sich zu organisieren. Es war eine sehr heterogene Gruppe, vor allem Studenten und Jungs aus den Armenvierteln, die für Samba und für Corinthians schwärmten. Sie versammelten sich in der Garage des Journalisten und Soziologen Chico Malfitani und beschlossen, Helu zu stürzen. Die Gaviões da Fiel waren lange Jahre ein sehr aktiver Fanclub, vor allem, solange ihre Gründer im Vorstand waren. Während der Militärdiktatur engagierten sie sich für die Amnestie von politischen Gefangenen, und aus ihr gingen zwei Bewegungen hervor, die gegen die Vereinsoberen rebellierten: die Corinthians-Revolution von 1971 und die Bewegung Fora Dualib! (Dualib raus!) von 2007. Sie unterstützten die Bewegung der Corinthians-Demokratie von Spielern wie Sócrates und beteiligten sich 1982 an der Abfassung des Fanstatuts. Aber im Lauf der Zeit gerieten ihre Ideen in Vergessenheit, weil die Gründer schon der Vergangenheit angehörten und die Gegenwart immer weniger mit der Gründungssituation gemeinsam hatte. Schon 1941 wurde in Rio der Flamengo-Fanclub Charanga Rubro-Negra gegründet, aber manche behaupten, dass der erste brasilianische Fußballfanclub 1939 von einem Kardinal namens Manoel Raymundo Paes de Almeida ins Leben gerufen wurde, das Grêmio Sampaulino nannte sich später Torcida Uniformizada do São Paulo (TUSP). Es gibt keine Aufzeichnungen und Studien zu den Fanclubs Brasiliens, obwohl sie ein altes gesellschaftliches Phänomen sind und eine wichtige Rolle im »Land des Fußballs« spielen. Es gibt sie in fast allen Bundesstaaten, etwas mehr als 600, und die meisten von ihnen finden sich im Südosten, in Rio, São Paulo und Minas Gerais. Einige wie die Gaviões da Fiel haben mehr als 100.000 eingeschriebene Mitglieder. Der Mancha Verde von Palmeiras São Paulo gehören über 75.000 Mitglieder an, Menschen aller Gesellschaftsschichten. Sie kommen aus den Stadtteilen der Reichen im Zentrum und den Armenvierteln am Stadtrand, sie sind Ärzte, Briefträger oder Busfahrer, es sind Kinder und Rentner, politisch Aktive und politisch Desinteressierte - die torcida ist ein Ort, an dem sie alle ihren Platz finden. Dennoch überwiegen junge Afrobrasilianer zwischen 18 und 25 Jahren mit niedrigem Einkommen. Das könnte erklären, warum die Fanclubs in Brasilien oft als kriminelle Vereinigungen behandelt werden, denn es sind die Menschen mit diesen Merkmalen, die bei uns und fast überall in der Welt am meisten unter Vorurteilen zu leiden haben. Gewalt unter organisierten Fußballfans Ende Februar 2014 wurde an einer Bushaltestelle ein Mitglied der Torcida Jovem do Santos von Mitgliedern der Torcida Independente do São Paulo totgeprügelt. Márcio Barreto de Toledo war 34 Jahre alt. Die Gewalt, die organisierten Fußballfans zugeschrieben wird, nimmt stark zu: 2011 registrierte man 11 Todesfälle, 2012 schon 23 und 2013 sogar 30, zumeist im Norden und Nordosten des Landes. Seit 1988, als der erste Mord im Zusammenhang mit dem Fußball bekannt wurde, gibt es schon mehr als 230 Opfer, größtenteils Mitglieder von Fanclubs. Die Leiter der torcidas erklären solche Gewalttaten mit sehr präzisen soziologischen Analysen: soziale Verletzlichkeit dieser Jugendlichen, Versäumnisse der Behörden, unzureichende Schulbildung, fehlender Halt in den Familien. Aber nicht nur diese Faktoren tragen zur Gewalteskalation bei. Fanclubs mit politischen Ansprüchen sind heute schon lange Vergangenheit, und es gibt niemanden, der diese Tradition wiederbeleben könnte, auch wenn es immer noch in den Vereinen eine Hierarchie mit Präsident und Vorstand gibt. Oft existiert auch eine Rangfolge des »Punktesammelns«, welche diejenigen begünstigt, die etwas zum Schutz des Vereins tun, etwa die, die sich an einer Schlägerei beteiligen. »Wer nicht gesehen wird, wird vergessen« - das ist die Devise, die man am häufigsten in solchen Organisationen hört. Man muss sich also hervortun, um in den Genuss von Vergünstigungen zu kommen, zum Beispiel die Chance zu erhalten, Karten für ein begehrtes Spiel kaufen zu können. Ein Jugendlicher, der das schafft, mag sich in seinem sonstigen sozialen Umfeld durch nichts auszeichnen, aber im Fanclub findet er einen Ort, an dem er jemand Wichtiges sein kann, selbst auf krummen Wegen. Auch der fehlende Dialog mit anderen, die sich in der Fußballszene bewegen oder mit ihr zu tun haben, trägt zur Explosion der Gewalt bei. Die Fanclubs werden von der Presse, der Polizei und der Gesellschaft rasch als kriminelle Organisationen eingestuft, obwohl ein Großteil ihrer Mitglieder niemals in Gewaltvorfälle verwickelt war. Daher gibt es mit den organisierten Fans keinen echten Dialog. Das war einmal anders. Gegen Ende der 1990er Jahre waren Oberst Rezende und Oberst Marinho, beide von der 2. Polizeispezialeinheit São Paulos, um einen ständigen Dialog mit den Fanclubs bemüht, was stark zum Rückgang der Gewalt beitrug. Es gab Selbstverpflichtungen, die vor den Spielen eingegangen wurden, alle Mitglieder machten mit und kümmerten sich um ihre Gruppierungen. Nachdem Marinho versetzt worden war, kamen diese Gespräche zum Erliegen. Der Frieden beim Fußball hängt von allen Beteiligten ab, auch von den organisierten Fans. Alle wissen, was zu tun ist, aber keiner tut es: weder die Fans noch die Polizei, weder die Richter noch der Staat. Wer hat da wohl ein Interesse an der Gewalt beim Fußball? Frauen in den Fankurven Auch wenn ihre Zahl in den Fanclubs nicht besonders groß ist, sind Frauen auf allen Tribünen Brasiliens präsent. Aber die Fanclubs werden von extremem Machismo dominiert, Frauen haben dort so gut wie nichts zu melden. Als ich mich einer torcida anschloss, nahmen ein paar Frauen, die vor mir gekommen waren, eine herausragende Stellung ein, und die Männer sprachen bewundernd, ja verherrlichend von ihnen. Aber keine dieser Frauen war in der Leitung, und die meisten beteiligten sich bei der Organisation von Feiern, das heißt, sie kümmerten sich um das Essen oder um die Dekoration. Nur wenige von ihnen sprachen über den Verein, und keine Einzige war in irgendeinem Rat. Sie wurden auch zu keiner Versammlung eingeladen, bei der die interne Politik von Corinthians besprochen wurde. Es war schwierig, mehr zu tun, als Tomaten zu schneiden und darauf zu bestehen, gehört zu werden. Aber eines habe ich den Männern abgerungen: Ab einem gewissen Zeitpunkt wurde ich aufgefordert, auch etwas zu sagen und meine Ideen über den Verein und den Fußball beizusteuern. Ich schaffte es sogar, die Gaviões da Fiel in Seminaren und Versammlungen zu vertreten, zum Beispiel in den so genannten Friedenskommissionen, die sich dem Problem der Gewalt in den Stadien widmen. Der Weg ist weit, aber Veränderungen sind möglich. In den torcidas gibt es viele Frauen, die dabei sind, weil sie den Verein und den Fußball lieben und weil sie Veränderungen wollen. Man muss sie nur zu Wort kommen lassen. Den Fanclubs hat es geschadet, dass sie ein »unorganisiertes« Wachstum erlebten. Ein paar haben solche Dimensionen angenommen, dass sie mehr Mitglieder haben als viele Städte Einwohner. Unter dem Druck der Öffentlichkeit, der bei jeder neuen Gewaltepisode spürbar wurde, mussten einige Gruppierungen sich in Sambaschulen verwandeln, um ihr Fortbestehen zu garantieren. Und den Karnevalszug vorzubereiten erfordert Zeit, die dann fehlt, um die interne Politik des Clubs zu diskutieren. Man muss zuerst das eigene Haus aufräumen, um sich danach um das System als solches kümmern zu können. Deswegen haben viele Fanclubs schon lange keine Initiativen mehr gestartet, um den brasilianischen Fußball zu verändern. Die derzeitige Existenzweise der torcidas geht ihrem Ende entgegen. Sie müssen sich neu erfinden, und einige von ihnen müssen sich sogar neu gründen. Sie sollten auf die Vergangenheit schauen, um dann zu beschließen, was ihre Zukunft sein soll. Sie sollten mit den Vereinsführungen brechen und den Fußballbonzen auf die Nerven gehen, statt Gefälligkeiten auszutauschen. Manche Fanclubs sind als Opposition entstanden und haben nicht gemerkt, wie groß die Macht war, die sie in der Bevölkerung hatten. Heute stecken sie in einer Zwickmühle und haben praktisch die gesamte brasilianische Gesellschaft gegen sich. Übersetzung: Monika Ottermann Empfehlenswerte Lektüre für die Zeit während und nach der WM (c) VSA-Verlag Texte aus dem Buch dürfen nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Germany License für nicht-kommerzielle Zwecke verbreitet werden. |