Der beste Mann für Afghanistan
KULTUR | NACHRUF (03.03.2015)
Von Michael Billig | |
Ein kluger Wissenschaftler, kämpferischer Kritiker und geradliniger Mensch ist von uns gegangen. Unser Autor Christian Sigrist ist vor zwei Wochen im Alter von 79 Jahren gestorben. Christian Sigrist (c) iley.de Christian wurde am 25. März 1935 in St. Blasien, Baden-Württemberg, geboren. Er wuchs im Berlin der Nationalsozialisten auf. Nach dem Krieg besuchte er das Jesuiten-Kolleg in St. Blasien, wo er "wegen Gefährdung der Internatsdisziplin" rausgeworfen wurde. Seine Mutter sorgte dafür, dass er die Schule fortsetzte. Ab 1954 studierte Christian Geschichte an der Universität Freiburg. Sein großes Studien- und später auch Forschungsinteresse galten Herrschaft und Widerstand. Für seine Promotionsarbeit über segmentäre Gesellschaften reiste er 1966 das erste Mal nach Afghanistan. Christian blieb siebeneinhalb Monate und beschäftigte sich mit den Stammesstrukturen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet. Sein zweiter Aufenthalt am Hindukusch folgte rund 25 Jahre später. Zu diesem Zeitpunkt waren die sowjetischen Besatzungstruppen aus Afghanistan abgezogen und Christian längst Professor am Institut für Soziologie in Münster. Er war 1971 dem Ruf der Universität gefolgt, wo er bis zu seiner Emeritierung im Wintersemester 1999/2000 lehren und forschen sollte. Zum Onlinemagazin iley.de stieß Christian in einer Zeit, als sich die Bundesrepublik Deutschland mit Waffen und Soldaten an einem neuerlichen Krieg in Afghanistan beteiligte. Christian schrieb über das Scheitern der deutschen Einsatzarmee, analysierte die Kriegsstrategie der US-geführten ISAF-Mission und kommentierte kritisch den Luftangriff von Kunduz, der mehr als 100 zivile Todesopfer forderte und den ein deutscher Oberst zu verantworten hatte. Prof. Dr. Christian Sigrist war unser Mann für Afghanistan. Einen besseren konnten wir uns nicht wünschen. Seine Position zu diesem Krieg war klar, die Tonalität seiner Texte angriffslustig. Nur ein Beispiel: "Am 4.12.2002 behauptete Verteidigungsminister Struck in bodenloser Unkenntnis der regionalen Verhältnisse: 'Die Sicherheit der Bundesrepublik wird auch am Hindukusch verteidigt.' Dieser Satz ist so wahr wie Willy Brandts Diktum: 'Die Freiheit Westberlins wird in Saigon verteidigt.'" In Analyse und Schlussfolgerung war Christian gnadenlos. Er gab Artikeln oft auch eine persönliche Note, wenn er von eigenen Erfahrungen berichtete. Die Afghanen kamen zu ihm Auch wenn Christian nach 1991 Afghanistan nicht mehr besuchte, blieb er dem Land und den Menschen bis an sein Lebensende verbunden. Die Afghanen, sie kamen zu ihm. Die spätere afghanische Botschafterin in Berlin, Maliha Zulfacar, promovierte bei Christian. Den ehemaligen Gouverneur der Provinz Khost, Hakim Taniwal, der im Jahr 2006 von einem Selbstmordattentäter in Afghanistan umgebracht wurde, nannte er seinen Freund. Während Taniwals Studienzeit in Münster beherbergte Christian ihn in seinem Haus. Noch als Emeritus ebnete er weiteren Doktorarbeiten den Weg, vor allem wenn es um Afghanistan ging. Im Oktober 2009 erschien auf iley.de Christians erster Beitrag über die Geschichte Afghanistans. Von da an berichtete er kontinuierlich über das Land am Hindukusch. Geografisch aus der Distanz, mit seiner Expertise und seinen Kontakten dennoch ganz nah dran. Als libertärer Anarchist opponierte er gegen die Herrschenden. Regierungen, ganz besonders die deutsche, kamen bei ihm ziemlich schlecht weg. Als Querdenker sah Christian Zusammenhänge, die andere nicht sehen konnten oder nicht sehen wollten. So kritisierte er die Floskel von der "friedlichen Revolution" als eine Verwässerung des Revolutionsbegriffs: "Sie unterschlägt, dass der Systemzusammenbruch im Sowjetblock und die Ablösung der SED-Diktatur (…) nur ermöglicht wurde durch den Widerstand der afghanischen Völker, die bis 1989 mehr als 1 Million Tote zu beklagen hatten." Christians These lautet, dass der Kampf der Afghanen gegen die Invasoren aus Moskau antisowjetischen Bewegungen in Osteuropa entscheidend Auftrieb gegeben und Mut gemacht hätten. Dank, so schrieb Christian zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, hätten die Afghanen von den Deutschen nicht erwartet. Kritik an der eigenen Universität Neben Afghanistan widmete sich Christian in seinen Beiträgen auf iley.de auch dem deutschen Wissenschaftsbetrieb. Er gewährte uns exklusive Einblicke ins Innere dieses Systems. Es ergab sich, dass die politische Elite unseres Landes durch ergaunerte Doktortitel auffiel. Für ihn, der zu seinen Promovierenden ein enges Verhältnis pflegte und gleichzeitig höchste Ansprüche an sie stellte, nur der nächste Beweis für die Korrumpierbarkeit der Wissenschaft. Die Universität Münster verliert einen engagierten Wissenschaftler und Lehrer, wie sie selbst in einer Pressemitteilung zum Tod von Christian verkündet. Unerwähnt lässt sie, dass sie auch den größten Kritiker ihres Namens verliert. Die Universität ist nach Kaiser Wilhelm II. benannt. Christian, der 1997 einer Kommission angehörte, die sich mit dem Namensgeber befasste, plädiert in einem Gutachten (pdf) für eine Umbenennung der Hochschule. Während die Kommission mehrheitlich für seinen Vorschlag stimmte, lässt die Hochschulleitung die Sache bis heute auf sich beruhen. Bis zuletzt kritisierte Christian öffentlich diese Haltung. So lernten wir uns im übrigen auch 2007 in Münster kennen. Er, der erfahrene Wissenschaftler, der seiner eigenen Hochschule Geschichtsverdrängung vorwarf, und ich, der junge Journalist, der gerade die dunklen Stellen in der NS-Vergangenheit der Universität ein wenig aufgehellt hatte. Für die Münstersche Zeitung interviewte ich Christian zur "Posse um den Namenspatron" (pdf). In den darauf folgenden Jahren sollten weitere Interviews folgen. Christian sagte mehrfach bei unseren oft stundenlangen Gesprächen, dass er froh sei, nicht mehr fester Teil des Wissenschaftssystems zu sein. Jetzt ist er ganz raus. Ein Jahr nach dem Tod von Ute, seiner liebenswerten Ehefrau und einer klasse Lehrerin, ist auch Christian aus dem Leben geschieden. Er starb am 14. Februar 2015. Gute fünf Jahre haben wir gemeinsam mit ihm Themen und Texte diskutieren und veröffentlichen dürfen. Für ihn war es in einem ereignisreichen und engagierten Forscher-Leben eine relativ kurze, für uns eine sehr intensive Zeit. Dafür sind wir ihm zutiefst dankbar. Die Zusammenarbeit mit ihm war uns und ganz besonders mir eine große Ehre! |