Wo Nachbarn zur Familie gehören
GESELLSCHAFT | WOHNPROJEKTE (08.05.2014)
Von Michael Billig | |
Zusammenhalt statt Abschottung und Vereinsamung: Immer mehr Menschen erwärmen sich für Wohnprojekte. Dabei gibt es verschiedene Vorstellungen, wie gemeinschaftliches Wohnen aussehen soll. Etwas aber haben alle gemein. Der Wohnhof Delstrup im münsterschen Stadtteil Gremmendorf. (c) M. Billig Gertrud Bußkamp musste nicht lange überlegen, als das kommunale Unternehmen Wohn-und Stadtbau im Sommer 2008 seine Pläne für den Wohnhof Delstrup vorstellte. Bußkamp lebte damals in einem Mehrfamilienhaus in Gremmendorf. "Da war alles völlig anonym und es herrschte keine gute Atmosphäre", erinnert sich die alleinstehende Seniorin. Sie spielte schon länger mit dem Gedanken, auszuziehen. Mit dem Wohnprojekt bot sich die Gelegenheit. Die Meinungen darüber, wie ein Wohnprojekt aussehen soll, gehen weit auseinander. Das Spektrum in Finanzierungs- und Eigentumsfragen ist breit, das der unterschiedlichen Werte- und Lebensvorstellungen ebenso. Es gibt die, denen eine ökologische Ausrichtung besonders am Herzen liegt. Häufig geht dies mit dem Wunsch einher, möglichst selbstbestimmt und unabhängig von Investoren zu wohnen. Andere legen größeren Wert darauf, unter ihresgleichen zu sein. Seit 2012 gibt es in Münster beispielsweise ein Wohnprojekt nur für Frauen. Wieder andere leben lieber mit Menschen zusammen, die wie sie allein sind oder ein bestimmtes Alter erreicht haben. Den nächsten ist gerade die Mischung aus Jung und Alt, aus Familien und Alleinstehenden wichtig. Der Wohnhof Delstrup ist ein Mehrgenerationenprojekt. Ihre künftigen Nachbarn lernte Bußkamp bereits in der Planungsphase kennen. "Wir haben uns von Anfang geduzt", erzählt Gilla Pitz, die wie Bußkamp zu den ersten Bewohnern zählt. Vor drei Jahren zogen sie ein. Auf die 17 Wohnungen verteilen sich heute 40 Leute, darunter Paare, Familien mit Kindern, Senioren, Alleinerziehende, Menschen mit körperlichem Handicap, gebürtige Münsteraner und Zugewanderte. Es gibt zusätzlich eine Wohnung für alle. Sie dient als Veranstaltungs- und Versammlungsort und Gästen als Unterkunft. Einmal im Monat treffen sich die Bewohner dort zum gemeinsamen Frühstück. Immer mehr Single-Haushalte Das wachsende Bedürfnis nach einer neuen Form von Zusammenhalt hat viel mit einer älter werdenden Bevölkerung und sich auflösenden, traditionellen Familienstrukturen zu tun. Wohnen passt sich diesen Entwicklungen an, wie ein Blick in die Zahlenwerke der Stadt Münster verrät: Haushalte mit vier- oder fünfköpfigen Familien sind immer seltener. Die Zahl der Single-Wohnungen steigt dagegen rapide an, in den letzten sechs Jahren um über 10.000. Heute lebt in mehr als der Hälfte der rund 162.000 Haushalte in Münster nur eine Person. Auch Bußkamp trägt zu dieser Statistik bei. "Ich lebe schon lange Zeit allein", sagt sie und fügt im gleichen Atemzug hinzu: "Da will ich wenigstens Kontakt zu meinen Nachbarn haben." Gilla Pitz (l.) und Gertrud Bußkamp leben beide allein. Da wollen sie wenigstens Kontakt zu ihren Nachbarn haben. (c) M. Billig Der Wind schubst dunkle Wolken vor die Sonne. Schatten fällt auf den Gemeinschaftsgarten. Gertrud Bußkamp rettet eine Bluse, die auf ihrer Loggia trocknet, vor dem aufkommenden Regen. "Die Kinder haben den Sandkasten nicht abgedeckt", sagt sie, als sie wieder das Wohnzimmer-Parkett betritt. Den Fußbodenbelag hat sie selbst ausgewählt. Auch die Fliesen in der Küche konnte sie sich aussuchen. Dusche statt Badewanne - dieser Wunsch wurde ihr ebenfalls erfüllt. Doch die Gestaltungsspielräume hatten Grenzen. Die Wohn- und Stadtbau behält sich als Bauträger und Vermieter grundlegende Entscheidungen vor. "Wir bauen für eine lange Zeit und nicht nur für die ersten Nutzer der Wohnungen", erklärt Martin Waltring, zuständig beim Unternehmen für Wohnprojekte. Als Architekten ihre Entwürfe für den Wohnhof präsentierten, durften Bußkamp und die anderen zwar dabei sein. Doch mitreden und auswählen - das durften sie nicht. Von der Hausbesetzung zum Vorzeigeprojekt Für Menschen, die selbstbestimmt bauen und wohnen wollen, sind diese Bedingungen kaum zu akzeptieren. "Wir wollen uns nichts vorschreiben lassen", sagt etwa Klaus Benning. Er vertritt eine junge Gruppe aus elf Erwachsenen und zwei Kindern, die für sich ein gemeinsames Zuhause sucht. Sie eiferten anderen, alternativen Wohnprojekten nach, sagt Benning und nennt als Beispiel die Häuser am Breul. Dort und in der Tibusstraße verwaltet der "Verein zum Erhalt preiswerten Wohnraums" 28 Wohnungen komplett selbst. "Die Häuser wurden 1880 gebaut", erzählt Bernd Drücke. Drücke wohnt seit mehr als 20 Jahren am Breul. Er ist einer von denen, die die Altbauten einst besetzten und vor dem Abriss bewahrten. Damals war die Aktion höchst umstritten. Heute ist die Gemeinschaft mit ihrem Blockheizkraftwerk im Keller ein preisgekröntes Vorzeigeprojekt. "Wir produzieren unseren eigenen Strom", so Drücke. Während um sie herum die Mieten in die Höhe schnellen, wohnen die insgesamt 60 Bewohner nicht nur zentral, sondern auch kostengünstig. Bernd Drücke besetzte einst die Häuser am Breul. Mittlerweile lebt er seit mehr als 20 Jahren dort. (c) M. Billig So unterschiedlich sie auch sind, eines haben alle Wohnprojekte gemein: das gute Gefühl, einer Gruppe anzugehören und die beruhigende Gewissheit, dass jemand da ist, wenn man Hilfe bracht. Bußkamp erzählt mit Freude von dem "Mitbewohner von oben drüber", der ihr den Holzfußboden in der Loggia verlegte. Wenn es darum geht, Einkäufe in die zweite Etage zu bugsieren, ließe sich niemand lange bitten. Gilla Pitz hütet die Haustiere der anderen. Gertrud Bußkamp hilft Nachbars Tochter bei den Hausaufgaben. Die Bewohner des Wohnhofes Delstrup bilden eine Gemeinschaft, wie sie sich mehr Bürger in Münster wünschen. Mit dem Platanenhof an der Hammer Straße und der Hiltruper Wohnungsgenossenschaft im Neubaugebiet am Franz-Dahlkamp-Weg entstehen gerade die nächsten Wohnprojekte. Ein halbes Dutzend aktiver Gruppen befindet sich auf der Suche nach einem geeigneten Standort, manche schon seit Jahren. 2013 haben sie sich mit anderen in dem "Bündnis urbane Wohnformen" zusammengeschlossen. In einem Bürgerantrag fordern sie nun eine stärkere Berücksichtigung bei der Vergabe städtischer Grundstücke. "Öffentliche Flächen wurden bisher im Höchstpreisverfahren auf den Markt gebracht oder an die städtische Wohn- und Stadtbau GmbH gegeben", kritisiert das Bündnis in seinem Schreiben. Dass es anders laufen kann, hat die Stadt aber schon einmal bewiesen. Ende 2011 hat sie die alte Hofanlage "Haus Coerde" an eine Genossenschaft verkauft. Heute gibt es dort nicht nur Wohnungen, sondern auch Ateliers, Werkstätten und eine Gärtnerei. Dieser Artikel ist auch in der Münsterschen Zeitung erschienen. |