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Die Urkatastrophe und wir
POLITIK | ERSTER WELTKRIEG (29.07.2014)
Von Frank Fehlberg
Den Ersten Weltkrieg als Lehrstück der Geschichte zu begreifen, liegt auf der Hand. Doch gerade diese Haltung kann gefährlich werden. Sie macht blind für die Katastrophen der Gegenwart.

WWW/Bundespräsidialamt

Männer mit Weltmissionen: Kaiser Wilhelm II. und Bundespräsident Joachim Gauck. (c) WWW/Bundespräsidialamt

Deutschland geht es gut, es gehört zu den Guten, ja, es steht für das Gute ein. Es hat aus seiner Geschichte gelernt. Seine starke wirtschaftliche und moralische Stellung fordert von ihm eine größere Verantwortung in der Welt. Das kann auch heißen, militärische Schritte zu gehen, wenn es keine andere Möglichkeit der Politik mehr gibt. - Eine gängige Position der Gegenwart oder einer geschichtlichen Situation? Beides. Dieses Selbstbild hatten 1914 viele Deutsche von ihrem Land. Von der Kanzlerin über die Verteidigungsministerin bis zum Bundespräsidenten, emotional befeuert noch durch den vierten WM-Titel der deutschen Fußballelf - im Jahre 2014 regt sich ein ähnlich überzeugter Sendungswille.

anno 1914: Das Kaiserreich verlangt nach Geltung in der Welt

Die herrschende Elite des Kaiserreichs war sich ihrer Weltmission sicher. Es gab nicht wenige außenpolitische Ereignisse, die sie hätten von ihrer Überzeugung abbringen können. Die deutsche Niederschlagung des Herero-Aufstandes im heutigen Namibia bis 1908 - für viele ein selbstverständlicher Schritt zur Durchsetzung der höheren Kultur. Das machten alle sogenannten höherstehenden Zivilisationen so. Die USA hatte die Eingeborenenfrage mit gewaltsamer Landnahme, Deportationen und Reservaten gelöst, letztlich mit der möglichsten Dezimierung und Verbannung der Unterlegenen. England hatte in Südafrika die weißen Buren, die ihrerseits die Ureinwohner verdrängt hatten, unter oft tödlichen Bedingungen in sogenannte "concentration camps" gepfercht, um seine Interessen durchzusetzen. Mit den Maßnahmen privater belgischer Unternehmen, unter deren Peitsche in 20 Jahren an die zehn Millionen Menschen im Kongogebiet starben, meinte man aber, nichts gemein zu haben. Wenn man denn solche "Methoden" überhaupt zur Kenntnis nahm.
Nicht nur nationale Weltmissionen glaubten westliche Länder an sonnigen Plätzen erfüllen zu müssen, "die Wirtschaft" sollte nicht zu kurz kommen. Die Ausbeutung von Arbeitern in den Mutterländern wurde mit Sklaverei-ähnlichen Zuständen in den ökonomischen Einflusssphären fortgesetzt. Wohlstand und ein Bewusstsein von Weltgeltung prägten das Selbstbild der bestimmenden Nationen - hauptsächlich aber der wirtschaftlich abgesicherten sozialen Schichten.
Bei Kriegsbeginn im August 1914 trug dies zu einer heute absurd anmutenden Hochstimmung bei. Viele Deutsche dachten, die Existenz des gerade 40 Jahre zählenden Deutschen Reiches sei in Gefahr. Russland, seit Jahren immer instabiler durch wirtschaftliche und soziale Probleme, galt zunächst als Hauptaggressor. Der Zarenhof habe nichts zu verlieren, was nicht auch ohne Krieg bald verloren ginge, daher handele er nach der Devise: die Schulden andere zahlen lassen oder untergehen, Sieg oder Tod! Unterliege ihm Österreich-Ungarn, sei Deutschland nur sein nächstes Opfer, zumal Frankreich auf eine solche Gelegenheit zur Rache für 1870/71 nur warte. Zum verbreiteten Gefühl, für die "Selbstbehauptung" zur Fahne eilen zu müssen, gesellten sich bald politische Kriegsziele, die in Teilen eher dem gierigen Drang zum Beutemachen entsprangen.

Bundesarchiv

anno 1904: die kaiserliche "Schutztruppe" in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia). (c) Bundesarchiv


Entfesselt sich die "deutsche Bestie" wieder?

Die deutsche "Alleinschuld" wird heute nicht mehr nur in Historikerkreisen mit Recht infrage gestellt. Aber ein entwicklungsfähiges Geschichtsbild ist nicht die Sache aller kritischen Geister. Einige glauben, ebenfalls nicht ganz unberechtigt, dass wir heute wieder der "deutschen Bestie" bei ihrer langsamen Entfesselung zusehen können. Glücklicherweise, hört man auf Umfragen, ist die Mehrheit der Deutschen nicht pauschal für "mehr Verantwortung in der Welt" und damit bereit, den Losungen seiner Führung oder der einzig verbliebenen Supermacht, den USA, blind zu folgen. Auch meint es unsere politische Führung sicher nicht so, wie die historisch abgeurteilt scheinenden Eliten des Kaiserreichs. Oder doch, irgendwie?
Immerhin eines macht die historisch untermalte Spekulation klar: eine definitive Lehre aus der Geschichte ist nicht zu ziehen. Um Geschichte zu lernen, muss man diese auf einen kleinen Ausschnitt von Fakten und Ereignissen reduzieren. Auf dieser schmalen Basis kann man dann leicht ihre Wiederholung feststellen und eine entsprechende Lehre zum Gegensteuern ableiten. Geschichte ist jedoch ein unüberschaubar komplexes Werden und Vergehen und wiederholt sich nie. Jede konkrete Lehre aus der Geschichte besteht notwendig aus einer zurechtgelegten Kombination von historischen Fakten. Sie ist daher nicht nur unvollständig, sondern in den praktischen Konsequenzen, zu deren Rechtfertigung man sie schließlich formuliert, zuweilen auch widersprüchlich.
Hätten das diejenigen Politiker beherzigt, die ihre Lehren immer wieder vermeintlich Säumigen unter die Nase reiben, dann würde Bundespräsident Joachim Gauck nicht fahrlässig moralisierend davon reden, dass es "manchmal" nötig sei, für Menschenrechte "zu den Waffen zu greifen".

anno 2014: "An der Seite der Unterdrückten"

Die Sicht des Freiheitsapostels und Eigenverantwortungspredigers Gauck ist blind für komplexe soziale und ökonomische Unterschiede und Zusammenhänge. Und für Tragödien und Katastrophen, die sich lange vor ihrer unüberhörbaren Gewaltexplosion abspielen. Er bezieht seine Geschichtslehre aus der durchaus verständlichen, aber zwangsläufig eindimensional bleibenden moralischen Bewertung geschichtlicher Vorgänge. Für Menschenrechte allein ist jedoch noch nie ein Krieg geführt worden.
So bereitet ausgerechnet Gauck den Boden für beliebige Militäreinsätze. Für UNO-Friedensmissionen, aber auch für die interessengeleitete Absicherung von Handelswegen und selektive Eingriffe in ferne Bürgerkriege und "gescheiterte Staaten". Wie er geschichtliche Kenntnisse und Erfahrungen in Handlungsorientierungen umsetzt, fällt damit merkwürdig gegensätzlich aus. Man braucht Gauck deshalb nicht, wie ein Parlamentarier der Linken es zuspitzte, einen "widerlichen Kriegshetzer" zu nennen. Andererseits stimmt aber auch das Sprichwort George Bernard Shaws, nach dem der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert sei.
Gauck meint natürlich nur, militärische Mittel für die guten Ziele einsetzen zu dürfen, der Krieg als solcher ist nicht sein Ziel. Deutschland sei heute ein Rechtsstaat und eine gefestigte Demokratie, es stehe daher anders als früher "an der Seite der Unterdrückten". Doch wer sind die Unterdrückten? Erst jene, die in einem fernen Land von sogenannten Terroristen mit Waffen angegriffen werden? Oder schon diese, die in einem fernen Land unter frühkapitalistischen Bedingungen auch für den deutschen Markt produzieren? Hier werden die Kategorien von Gut und Böse erheblich relativiert, sie werden zu einer politischen Frage, der mit moralischer Eindimensionalität nicht so einfach beizukommen ist.
Das aber bedeutet, dass die Geschichte - oder vielmehr das einfache Bild von ihr - als betoniertes Fundament für die Deutung aller Ereignisse der Gegenwart keine Hilfe ist. So kann sie sogar gerade erst zum Nährboden für gefährliche Abenteuer werden. So oft wir denken, wir hätten aus ihr gelernt, so schnell sind wir bei der resignativen Feststellung, Geschichte wiederhole sich wegen unbelehrbaren Störern eben immer wieder. Man wolle ja nicht zu den Waffen greifen, aber man werde ja hin und wieder von diesen Unbelehrbaren dazu gezwungen. So wird dieser angeblichen Wiederholung erst zu ihrem Vollzug verholfen, indem die "letzten Mittel" eingesetzt werden müssen, um jene Lernverweigerer auf den rechten Pfad zurückzuführen.

Bundeswehr/Bienert

anno 2013: Deutsche Soldaten kontrollieren nördlich von Kundus, Afghanistan, die Straße. (c) Bundeswehr/Bienert


Wissen schützt vor Krieg nicht

Hier gilt das Wort des griechischen Philosophen Heraklit: "Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen". Wer heute denkt, einen sicheren Übergang über den Fluss der Geschichte gefunden zu haben, der kann schon morgen - wie all die "irrenden" Ahnen - in diesem Fluss mit den Worten von der Wiederholung der Geschichte auf den Lippen ertrinken. Alles, was sich hier jedoch wiederholt, ist die ewig neu zu erreichende Erkenntnis, dass "Aufklärung" oder "Wissen" nicht vor verhängnisvollen Entscheidungen im Individuellen wie vor Fehlentwicklungen im Sozialen schützen können. Dies ist die einzige Lehre, wenn man so will, die aus der Geschichte gezogen werden kann.
Wie die Gegenwart zu interpretieren ist und welche Handlungsspielräume sich ihr bieten muss von den Lebenden bewertet und kann nicht von den Toten gelehrt werden. Die Frage lautet auch nicht, ob sich nicht die Handelnden von heute, mit all ihrem historischen Wissen und ihren vermeintlich fortgeschrittenen ethischen Ansichten bei Entscheidungen über Krieg und Frieden besonnener zeigen würden. Die Frage lautet: Wie stellen sich die Bedingungen der heutigen Politik dar, was sind ihre Begriffe von der Welt und dementsprechend ihre Maximen? Welchen Sach- und Denkzwängen ist sie unterworfen?
Damit ist man am Ausgangspunkt des Ersten Weltkrieges und zugleich in den weltweit andauernden Konflikten der Gegenwart angekommen. Es mag abgedroschen klingen. Aber am besten ist es, man fängt mit der Lösung von Problemen dann an, wenn sie noch nicht in Gewalt ausarten. Dafür braucht man einen so scharfen wie zugleich abstrakten Blick für Entwicklungen, die in keiner einfachen Chronologie von Ereignissen und Personen, in keiner einfachen Teilung in Gut und Böse zu finden sind. Wie die Wahrheit liegt die Geschichte immer dazwischen.
   







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