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Über Wroclaw nach Lwiw - eine verrückte Tour
REISE | LOGBUCH (15.06.2012)
Von Sebastian Deppe
Unser Autor hat sich mit dem Auto auf den Weg nach Lwiw gemacht, Spielort der deutschen Fußballnationalmannschaft. Bericht eines Husarenritts durch den Osten Europas:

Sebastian Deppe

Freie Fahrt für freie Fußballfans. (c) Sebastian Deppe


Freitag, 8. Juni, 11.42 Uhr: Ostdeutsche Autobahn. Landschaften ziehen vorbei und unzählige Neubaugebiete, mit Häusern, die verschieden sind und doch alle gleich aussehen. Am Himmel kreisen Greifvögel und Störche fliegen. Von Fußballfans auf dem Weg in die Ukraine ist nichts zu sehen.

13.32 Uhr: Irgendwo vor der polnischen Grenze. Zwei Nazi-Hooligans stehen auf dem Standstreifen. Wahrscheinlich wollen sie nach Polen zum Vorspiel. Aber ihr Auto hat eine Panne. Ha! Nur verwunderlich wie die Oberkörper der Glatzen in den kleinen Kleinwagen passen.

13.47 Uhr: Wieder ein Nazi in einem Kleinwagen. Er steht auf einem kleinen Rastplatz. Laute Nazi-Musik dröhnt aus der Fahrertür. Er wartet. Worauf, weiß er wahrscheinlich selber nicht. Vielleicht ist das ein Hobby von Nazis. Im Ruhrpott treffen sich Autoprolls bei McDonalds auf dem Parkplatz oder an der Tankstelle. In Ostdeutschland stehen Nazis auf Autobahnparkplätzen und hören alleine Musik. Immer noch keine Fußballfan zu sehen.

14.02 Uhr: Grenze zu Polen. Keine Kontrollen. Aber sofort bestätigt sich das Klischee. Die Autobahn gleicht einer Buckelpiste mit Schlaglöchern groß wie Kühlschränke. Merke: Mit voller Blase sollte man auf diesem Stück nicht fahren. Sollte in jedem Reiseführer stehen. Es wird das letzte Klischee auf der Reise bleiben und auch die letzte schlechte Straße.

14.22 Uhr: Es sind nicht nur keine Fußballfans zu sehen, sondern auch keine anderen Autos. Sms schreiben mit Smartphone unmöglich. Das Auto wackelt. Dafür auf einem Feld am Rande der Autobahn eine Werbeschild des Heideparks Soltau. Guter Witz!


16.47 Uhr: In Breslaus (Wroclaw) Innenstadt staut sich der Verkehr. Zum ersten Mal kommt Fußballstimmung auf. Die Menschen sind auf dem Weg in die Innenstadt. Gleich beginnt das Eröffnungsspiel. Häuser, Autos und Menschen sind geschmückt in den Landesfarben.

17.00 Uhr: Auf dem Marktplatz, umrandet von alten Häusern mit wunderschönen Fassaden, findet das EM-Fest statt. Die Fanmeile ist schnell überfüllt. Einlassstop. Die Uefa hat hier und rund um die Stadien ihren eigenen kleinen Staat gebaut.

17.23 Uhr Breslau ist Austragungsort. Am Abend spielt dort Russland gegen Tschechien. Zusammen wird hier nicht gefeiert. Die Stimmung ist noch friedlich. Doch je länger der Abend und je mehr Alkohol fließt, desto aggressiver werden die Männer. Später prügeln sich die russischen und polnischen Fans untereinander und mit der Polizei. Auf dem Marktplatz fliegen Stühle und Tische.

18 Uhr: Wir schauen das Eröffnungsspiel zuhause und die Partie am Abend in einem polnischen Restaurant. In der ganzen Stadt ist das Essen billig und das Bier lecker. Ein aufregender Tag geht zu Ende. Die Polen ziehen enttäuscht durch die Straßen.

Samstag, 9. Juni 8.42 Uhr: Wir machen uns auf den Weg nach Lemberg (Lwiw). Ein Freund sucht Ohropax. Mit 16 hüpfte er auf Hardcore und Punk Konzerten herum. Nun braucht er Ohrenstöpsel für das Stadion. Man ist alt geworden.

10.22 Uhr: Die ersten deutschen Fußballfans sind auf der Autobahn zu sehen. Die geht bis Krakau. Es folgen hunderte Kilometer über polnische und ukrainische Landstraßen. Die sind in sehr gutem Zustand und wurden für die Europameisterschaft neu gebaut. Leider auch in jedem zweiten Ort ein McDonalds.


12.45 Uhr: Die Straßen sind gut. Die Fahrkünste der Polen wohl nicht, je weiter man Richtung Osten fährt. Leider steht alle paar Kilometer ein Kreuz und Blumen an der Landstraße.

15.50 Uhr: Je weiter man Richtung Osten fährt, desto schwüler wird es. Das Wetter wird am Abend auch der deutschen Mannschaft im Stadion von Lemberg zu schaffen machen. Das lässt zumindest die Leistung vermuten. Die Zeit wird knapp. Das Stadion ist noch weit. Vor allem wenn man weiß, dass an der Grenze zur Ukraine Wartezeiten von mehreren Stunden normal sind.


17.45 Uhr: An der Grenze müssen die Fußballfans ihre Eintrittskarten vorzeigen. Dann erhalten sie ein Schild aus Pappe und dürfen eine zur Europameisterschaft eingerichtete Spur nutzen. Man fährt an alten Ladas und Lastwagen vorbei und ist eine halbe Stunde später in der Ukraine – und fühlt sich nicht wirklich gut. Die Westeuropäer werden während der Europameisterschaft hofiert. In der Innenstadt von Lemberg werden später teilweise Straßen für die Bevölkerung gesperrt, damit die Touristen freie Fahrt zum Stadion haben. Politische Proteste gibt es nicht, zumindest nicht sichtbar. Wahrscheinlich wurden Regimekritiker vorher in den Knast gesteckt oder niedergeknüppelt, von Polizisten, die teilweise so jung sind, dass sie zumindest nicht mehr aus der Uniform herauswachsen. Die aber ist schön: Hellblaue Hemden, die mit einem Bündchen abschließen. Sollten sich die Modedesigner in Mailand oder Madrid mal anschauen.

18.30 Uhr: Überall in den Dörfern an der Landstraße stehen Kinder und winken den deutschen Fans zu. Babuschkas in bunten Kleidern stehen an den Gartentoren. Immer wieder haben die Menschen an der Landstraße kleine Stände aufgebaut und verkaufen Pilze oder Walderdbeeren. Mmmmmhhhh!

Ortseingangsschild Lwiw
19.45 Uhr: In Lemberg laufen vor allem deutsche Fans durch die wunderschöne Altstadt. Für manche schämt man sich. Später am Stadion sind vereinzelt auch nationalistische Töne zu hören und herablassende Sprüche über die Ukrainer. Schade! Fußball hat schon immer auch das Pack angezogen. Aber es bleiben Einzelfälle – und Nazis soll es ja auch in der Ukraine geben.

19.47 Uhr: Das Auto setzt auf dem Kopfsteinpflaster auf. Alte Trams und Ladas fahren vorbei. Es regnet Bindfäden und ist schwül. Die Straßenschilder in Kyrillisch helfen nicht. Das Navi funktioniert nicht mehr. Aber der Weg zum Stadion wird mit Schildern gewiesen – hin und wieder zumindest.

20.20 Uhr: Auf dem Weg zum Stadion, das weit vor der Stadt liegt, ziehen alte und verschimmelte Plattenbauten vorbei, die alle gleich aussehen. Auf den sehr breiten Straßen fahren kaum Autos. So hat man sich die Sowjetunion immer vorgestellt – im romantischen Sinne. Es sind Relikte sowjetischer Herrschaft. Es ist eine andere Welt.

20.45 Uhr: Am Horizont taucht das Stadion auf und leuchtet im Dunst des diesigen Abendhimmels. Die Arena scheint in die sumpfige Landschaft vor Lemberg gefallen zu sein wie ein Meteorit. Im Hintergrund sind noch die Plattenbauten der Satellitenstädte zu sehen. Die Arena und die Umgebung, das passt nicht. Genauso wie Mario Gomez und das Spiel der deutschen Mannschaft. Aber er wird später das Tor machen und die deutschen und ukrainischen Zuschauer – viele Einheimische halten zur deutschen Mannschaft – in Ekstase versetzen.

20.55 Uhr: Vor dem Stadion stehen riesige Flächen leer. Die Parkplätze sind nicht fertig geworden. Wir parken auf der Autobahn. Großartig. Genau darum geht es bei so einem Ausflug!

21.35 Uhr: Das Stadion hat 220 Millionen Euro gekostet, fasst rund 35.000 Zuschauer und ist eine Arena, wie sie auch in Deutschland oder den Niederlanden stehen könnte. Es ist nur schwer vorstellbar, dass sie nach der Europameisterschaft auch nur einmal ausverkauft sein wird, wenn die heimischen Fußballklubs Karpaty Lwiw und FK Lwiw dort spielen.

21.40 Uhr: Die Aufregung steigt. Noch fünf Minuten bis zum Spielbeginn. Die Partie wird um 21.45 Uhr Ortszeit angepfiffen, wegen der Zeitverschiebung von einer Stunde. Vor dem Spiel gibt es noch eine durchgestylte Aufführung mit Tänzern in ukrainischen Landesfarben. Die Spiele bei der Europameisterschaft sind choreografierte Events der UEFA. Mit dramatischer und atmosphärischer Musik bis kurz vor dem Anpfiff. Dann wird die restliche Zeit bis zum Spielbeginn auf der Anzeigentafel und über die Mikrofone heruntergezählt. Auch der Schiri hatte darauf wohl keinen Bock mehr und pfeift zehn Sekunden zu früh an.

21.46 Uhr: Jetzt geht es nur noch um Fußball. Die deutsche Mannschaft spielt behäbig und phlegmatisch. Vielleicht lag es am Wetter oder am ersten Spiel. Egal.

22.35 Uhr: Immer wieder – genauso wie auf dem Fanfest vor der Arena dröhnen die Black Eyed Peas und anderer Schrott aus den Boxen. Manche Lieder sind im Laufe des Abends bestimmt acht Mal zu hören. Das Regime strebt nach Russland. Die Menschen wollen nach Europa. Die UEFA baut sich ihren eigenen Staat. Angenehme Musik bleibt da scheinbar auf der Strecke. Aber das ist in den meisten deutschen Stadien ja nicht anders.

23.20 Uhr: Deutschland hat gewonnen. Viele Fans treten noch in der Nacht mit dem Auto die Heimreise ins entfernte Deutschland an. Einige von der Hinfahrt trifft man an der Grenze wieder, manche sind sogar komplett alleine unterwegs. Verrückt.

Sonntag, 10 Juni, 0.35 Uhr: Von den Horrorszenarien, die vorher über den Verkehr auf ukrainischen Straßen verbreitet wurden, merkt man nichts. Bis auf einmal in der kompletten Dunkelheit die Bremslichter eines Autos angehen, das abbiegen will. Verrückt.

23.15 Uhr: Nach über 3000 Kilometern und über 30 Stunden im Auto wieder zuhause. Es war großartig!
   




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