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Wachstum und Beschäftigung
WIRTSCHAFT | NEOLIBERALES MANTRA (15.01.2015)
Von Wolfgang Belitz
Liebe Mantraanhänger: Dauerhaft schafft Wachstum keine Arbeit. Zwar steigen die Beschäftigtenzahlen, das Arbeitsvolumen in Deutschland aber stagniert. Immer mehr Menschen teilen sich immer weniger Arbeit.

Die "neoliberale Konterrevolution" hat sich nun seit Jahr und Tag durchgesetzt und weltweit den Sieg errungen über alle Denkansätze für ein humanes und ökologisches Wirtschaften. Trotz aller Misserfolge, Zerstörungen, Krisen, Katastrophen, schreienden Ungerechtigkeiten und massiven Kritiken bleibt der Neoliberalismus unerschütterlicher Sieger, weil seine Verfechter und Nutznießer über alle politische und ökonomische Macht verfügen und sich darum vor niemanden rechtfertigen oder verantworten müssen. Neuerdings werden nun alle weiteren politischen und ökonomischen Debatten, differenzierten Betrachtungen und Kontroversen über den Weg in die Zukunft in der Praxis des aktuellen Neoliberalismus dogmatisch weggeräumt mit der Konzentration auf das neoliberale Mantra "Wachstum und Beschäftigung". Das ist nicht neu, aber in dieser Konzentration und Universalität propagiert, kann die "Generation Merkel" mit neuer Intensität die Alternativlosigkeit der alten "Ökonomie des Todes" verfolgen.

"Das Mantra (Spruch, Lied, Hymne) bezeichnet eine heilige Silbe, ein heiliges Wort oder einen heiligen Vers. Diese sind ‚Klangkörper‘ einer spirituellen Kraft, die sich durch meist repetitives Rezitieren im Diesseits manifestieren soll." Genau so geschieht es in der neoliberalen Theorie und Praxis, aber mit entgegengesetzter Zielsetzung wird daraus eine reale Perversion. Der Klangkörper entbindet keine spirituelle Kraft, sondern entfesselt alle materiellen Kräfte einer blinden Ökonomie entgegen aller menschlichen Erkenntnis. Geht man dem Mantra auf den Grund, dann wird erkennbar, dass es eine starke Reduktion aller Wachstumskritik bedeutet.
In meinem Regal steht seit 1972 das Buch von Dennis Meadows: Die Grenzen des Wachstums, Bericht an den Club of Rome zur Lage der Menschheit. Hier wird zum ersten Mal und umfassend die These belegt, dass es in einem nicht unendlichen System wie der Erde kein unendliches Wachstum gibt. Es gibt Grenzen des Wachstums. Die Entnahme von Rohstoffen ist ebenso begrenzt wie die Freisetzung von Abwärme und die Absorption von Schadstoffen. Diese These ist nach langen kontroversen Debatten heute unbestritten. Die Bemühungen, daraus Konsequenzen zu realisieren, sind mit unterschiedlicher Intensität und in disparaten Bereichen mit eher geringem Erfolg im Gange, treten immer wieder auf der Stelle und sind gelegentlich wieder rückwärtsgewandt. Seit längerem und besonders seit Anfang der Großen Koalition und mit Beginn der neuen EU-Kommission spielt die notwendige und fundamentale Wachstumskritik so gut wie keine Rolle mehr. Die Grenzfragen werden unter der eher beschaulichen Überschrift "Klimawandel" behandelt und
im Sprachgebrauch von Großer Koaliton und EU spielt das Mantra "Wachstum und Beschäftigung" eine so fraglos dominierende Rolle, dass der Anschein erweckt wird, der Politik sei ein kritikfreier Königsweg zum Wohle der Menschen aufgetan worden. Die Wachstumsschäden werden in der Mantrapropaganda ausgeklammert und niemand fragt, was bei der Forcierung der Wachstumsideologie aus dem werden soll, was im allgemeinen anthropozentrischen Sprachgebrauch "Umwelt" genannt wird.
iley.de

Das BIP wächst, das Arbeitsvolumen stagniert. (c) iley.de


Auf der anderen Seite beschwört das Mantra den Zusammenhang von Wachstum und Beschäftigung. In meinem Regal steht seit 1983 das Buch von André Gorz: Wege ins Paradies, Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit. Seine Lektüre und andere Autoren (Rifkin, Leontief, Hengsbach) haben mich zu meinem Vier-Drei-Zwei-Eins-Weg zu einem neuen Gesellschaftsvertrag mit Arbeit und Einkommen für alle Menschen inspiriert. Liebe Mantraanhänger: Dauerhaft schafft Wachstum keine Arbeitsplätze. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wachstum und steigender Beschäftigung ist mehr als brüchig und besteht nur, wenn die Wirtschaftswachstumsrate höher ist als die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität, und diese Relation wird wegen der fortschreitenden mikroelektronischen Automatisierungsmöglichkeiten eher seltener bestehen. Ideologisch ist das Mantra "Wachstum und Beschäftigung" logisch, empirisch ist es eher anachronistisch. Schon vor Jahrzehnten konnte ich dazu festhalten: Im Zeitraum von 1966 bis 1991 verdoppelt sich das Bruttoinlandsprodukt von 1.300 Mrd. DM auf real 2.600 Mrd. DM. Im selben Zeitraum verringert sich das Arbeitsvolumen, das zur Erstellung des BIP aufgewandt worden ist, um 15 Prozent.

Aus "arbeitslosen Armen" werden "arbeitende Arme"

An der mantrakritischen Realität hat sich inzwischen wenig geändert: Von 2000 bis 2013 stieg das BIP um 33 Prozent. Das Gesamtarbeitsvolumen dagegen stagniert - abgesehen von leichten Schwankungen. Meine uralte These lautet: Immer mehr materieller Reichtum wird produziert mit immer weniger menschlicher Arbeitskraft. Diese Zusammenhänge verdrängt der Neoliberalismus und verweist stattdessen ohne Bezug auf die Entwicklung eines über Jahrzehnte sinkenden Arbeitsvolumens auf die steigende Zahl der Arbeitsplätze. Von 2000 bis 2013 wuchs die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer von 36 Millionen auf knapp 38 Millionen. Die Zahl aller Erwerbstätigen liegt bei über 42 Millionen. Das Mantra lebt: Wachstum und Beschäftigung.
iley.de

Mit steigender Zahl der Erwerbstätigen nehmen die atypischen bzw. prekären Beschäftigungsverhältnisse zu. (c) iley.de


Berücksichtigt man hingegen die Entwicklung des Arbeitsvolumens, dann lautet die Schlussfolgerung: Immer mehr Menschen müssen sich immer weniger Arbeit teilen. Da die Teilung nicht gerecht erfolgt, sondern machtorientiert und schichtenspezifisch, erhalten immer mehr Menschen eine geringfügige Beschäftigung, von der sie nicht leben können. So können die Arbeitslosenzahlen sinken und die Beschäftigtenzahlen steigen, indem aus den "arbeitslosen Armen" "arbeitende Arme" werden.
Um eine Anklage der Klassengesellschaft zu übertönen, muss der Klangkörper "Wachstum und Beschäftigung" hell erklingen und sich durch permanentes "repetitives Rezitieren" durchsetzen. Bislang und weiterhin mit großem Erfolg.
So geht Neoliberalismus.

Der Autor ist seit 1970 Sozialpfarrer der Ev. Kirche von Westfalen und lebt in Unna.

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Dieser Beitrag ist in der Zeitschrift Amos erschienen. Das Onlinemagazin iley und das Printprodukt Amos kooperieren auf unbestimmte Zeit. Die Idee: Onlineartikel gehen bei Amos in den Druck und ausgewählte Printartikel wandern bei iley ins Netz.
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