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Zeitarbeit - Moderne Sklaverei ?
WIRTSCHAFT | MITGEMACHT (16.02.2009)
Von Olaf Götze
Neben den Minijobs steigt vor allem eine Form des Arbeitsverhältnisses: Die Leiharbeit.

Seit dem die Begrenzung der Verleihdauer an Unternehmen aufgehoben wurde, steigt diese Beschäftigungsform sprunghaft an. Waren es 2005 noch knapp 400.000 Beschäftigte, verdoppelte sich ihre Zahl für das Jahr 2007 auf über 800.000 LeiharbeiterInnen. Dieser Bericht gibt aus erster Hand einen Eindruck von ihrer Arbeit.

Rückblende, Oktober 2008: Seit wenigen Wochen bin ich für eine Zeitarbeitsfirma, also ein Unternehmen, welches Leiharbeitskräfte einstellt, beschäftigt. Tätig war ich seitdem fast nur in einem einzigen Unternehmen, einem großen Logistikunternehmen für die Kommissionierung und Verpackung von Waren zuständig. Insgesamt vier verschiedene Leiharbeitsfirmen entsenden an dieses Unternehmen ihre MitarbeiterInnen.

Miko

"An der kurzen Leine ..." (c) Miko

Schicht für Schicht

Gearbeitet wird im Schichtwechsel: Frühschicht, Spätschicht und Nachtschicht. Die Firma arbeitet praktisch nur noch mit LeiharbeiterInnen. Auf die etwa 20 festangestellten MitarbeiterInnen im Bereich der Schicht- und Abteilungsleitung kommen etwa 200 bis 300 LeiharbeiterInnen pro Schicht. Die LeiharbeiterInnen verdienen je nach Zeitarbeitsagentur zwischen 6,50 Euro und 7,50 Euro pro Stunde. Hinzu kommen gegebenenfalls noch Abzüge für die Anfahrt mit Firmenfahrzeugen. Die allerwenigsten Beschäftigten kommen aus dem Ort. Die meisten haben eine Anfahrtszeit von einer halben bis einer ganzen Stunde mit dem Auto.

Die Zeitarbeitsagentur, für welche ich arbeite, hat über 1000 extern Beschäftigte in der Region. Dennoch gibt es keinen Betriebsrat. Schon der Arbeitsvertrag enthält einige Tücken. Diese hängen auch mit den Auswüchsen des Leiharbeitssystems zusammen, welche eine genauere Betrachtung bedürfen.

Scheingewerkschaften unterwandern Tarifverträge

Wie ist es möglich, dass durch Leiharbeit soviel reguläre Beschäftigung verdrängt wird, zu Löhnen, die oftmals unter der Hälfte der Entlohnung der bisherigen Stammbelegschaft ausfällt? Grundsätzlich ist es gesetzlich nicht erlaubt, LeiharbeiterInnen geringer zu bezahlen als gleichwertige Festangestellte. Das Arbeitnehmerentsendegesetz lässt jedoch eine Ausnahme zu, nämlich die Möglichkeit, dass ein Tarifvertrag etwas anderes regelt. Daher haben die Arbeitgeber für den Bereich der Leiharbeit die „Christliche Gewerkschaft Zeitarbeit“ gegründet. Die Scheingewerkschaft schließt Tarifverträge mit den Zeitarbeitsagenturen, so dass alle LeiharbeiterInnen nach Tarif bezahlt werden. Darauf wird man dann, falls man es kaum glauben mag, im Vorstellungsgespräch auch mehrmals hingewiesen.

Aber haben diese Gewerkschaften überhaupt Mitglieder, die in der Branche beschäftigt sind? Aus Zeitungsartikeln* ist zu erfahren, dass an manchen Orten die LeiharbeiterInnen zu Vertragsunterschreibung gleich auch Zwangsmitglied dieser Gewerkschaft werden. Dies sind dann zumeist MitbürgerInnen ausländischer Herkunft, die nachher keine Probleme bereiten. Sie müssen einen Beleg unterschreiben, dass sie mit Beginn des Arbeitsverhältnisses zugleich Mitglied der „Christlichen Gewerkschaft Zeitarbeit“ werden und der Mitgliedsbeitrag vom Lohn abgezogen und direkt an die Gewerkschaft überwiesen wird. So hält sich eine ganze Branche in der rechtlichen Grauzone über Wasser. Zwar haben bereits einzelne ArbeitnehmerInnen erfolgreich geklagt, eine Grundsatzentscheidung wurde bisher jedoch nicht gefällt. Zumeist kauften sich die Agenturen dabei mit hohen Vergleichszahlungen frei.

„Alles besser als Hartz IV“

Auch mein Arbeitsvertrag enthält zahlreiche Hinweise auf die tariflichen Regelungen. Doch ein Blick in den Tarifvertrag enthüllt, selbst die Verträge der „Christlichen Gewerkschaft Zeitarbeit“ sehen eine um zehn Prozent höhere Entlohnung vor, als ich sie erhalte. Wo diese 70 Cent pro gearbeiteter Stunde bleiben, ist bisher ungewiss. Vom Arbeitgeber wird hierfür eine Probezeit von sechs Monaten angeführt. Gespräche mit den übrigen MitarbeiterInnen während der Pause zeigen: Kaum jemand hier hat seinen Arbeitsvertrag überhaupt gelesen. Die Einen interessiert er tatsächlich nicht, die Anderen ordnen ihm keinen Wert zu.
Trotz höchster Anforderungen bei der Arbeit schwankt die Einstellung zur Arbeitsstelle. Auf den Toilettenwänden ist zu lesen: „Dieses Unternehmen ist Scheiße.“ Gefolgt von dem Spruch: „Alles besser als HartzIV.“ Viele reden von modernem Sklavenhandel und davon, dass man wie Vieh behandelt wird.

Die meisten Menschen wollen eine gute Arbeit leisten, obwohl sie dabei kaum wie Menschen behandelt werden. Das fängt schon bei den Arbeitszeiten an. Überstunden sind offensichtlich keine Seltenheit. Wird die Arbeit knapper, werden lieber einige LeiharbeiterInnen entlassen. Ein üblicher Achtstundentag beinhaltet eine unbezahlte halbe Stunde Pause. Ein Elfstundentag enthält eine halbe Stunde Pause und eine Zwanzig-Minuten-Pause. Die Arbeitszeiten können sich ständig ändern. Gibt es eine Schichtverlängerung, wird man von der Zeitarbeitsagentur oft erst zwei bis drei Stunden vorher informiert. Das auch gilt für Wochenendarbeit. Der Samstag ist in der Hauptsaison offensichtlich planmäßig als Arbeitstag einkalkuliert.

In vier Wochen blieb mir kein einziges freies Wochenende. Selbst Feiertage werden gezielt umschifft. Für den 3. Oktober, Tag der deutschen Einheit, bedeutete dies: Die Nachtschicht musste vom 1. auf den 2. Oktober eine verlängerte Zehnstundenschicht schieben, um dann am 2. Oktober eine vorgezogene Schicht von 16 Uhr bis 24 Uhr einzulegen. Am Freitag ging es dann regulär ab 22 Uhr in die Nachtschicht. So blieben Feiertagsaufschläge unangetastet. Die MitarbeiterInnen jedoch hatten exakt elf Stunden gerade noch gesetzlich erlaubte Zeit zwischen den Schichten. Gerade für diejenigen mit weiterem Anfahrtsweg bedeutete dies, zu Hause ankommen, essen, schlafen, aufstehen und wieder zur Arbeit.
Ein anderes Mal wurden Überstunden für die gesamte Woche inklusive Samstagsarbeit angekündigt. Insgesamt war dies eine 57-Stunden-Woche für die LeiharbeiterInnen, wohlbemerkt reine Arbeitszeit, die Pausen bereits abgezogen. Danach ging es am Sonntagabend bereits wieder in die Nachtschicht.

Nicht alle halten durch

Diese Arbeitsbedingungen halten nicht alle länger durch. Schon nach ein bis zwei Wochen sind vielleicht ein Drittel der neuen LeiharbeiterInnen wieder weg oder entlassen worden. Dies liegt auch an dem enormen sozialen Druck, der während der Arbeit aufgebaut wird. Wer mit dem Nachbarn redet, sich kurz setzt oder anderweitig unmotiviert verhält, wird sofort ermahnt. Kündigungsschutz gibt es keinen und wer ein zweites oder drittes Mal auffällt, fliegt.
Die Stückzahlen werden für alle Kommissionierer und Verpacker am PC erfasst und ständig überwacht. Mit einem ominösen Gewinnsystem, dessen Kriterien nicht veröffentlicht werden, sollen die MitarbeiterInnen zusätzlich motiviert werden. In unregelmäßigen Abständen werden dann offenbar etwa zehn Euro pro MitarbeiterIn ausgeschüttet. Dies soll alle Angestellten auf Höchstleistung trimmen, was für den ein oder anderen, wenn auch vergeblich was die Prämie angeht, gelingt. Doch das System wirkt sich als Konkurrenz in der Arbeitnehmerschaft aus. Nur wer sich die besten Aufträge beschafft, hat überhaupt eine Chance auf die Prämie. So nehmen sich die ohnehin unterdrückten ArbeitnehmerInnen auch die ansonsten ausgeprägte Solidarität untereinander weg. Auch die AbteilungsleiterInnen wollen von der Prämie profitieren und geben den Druck nach unten weiter.

Arbeit versus Gesundheit

In der vierten Woche erkrankte ich an einer leichten Grippe und lag mit Fieber und Halsschmerzen im Bett. Von meinem Hausarzt musste ich mich daher für Freitag, Samstag und Sonntag krank schreiben lassen. Mein Arbeitsvertrag sieht eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erst nach sechs Wochen bestehenden Vertrages vor. Ohnehin hatte ich in dieser Woche jedoch bereits vierzig Stunden gearbeitet. Mein Arbeitgeber von der Zeitarbeitsagentur gab mir dennoch zu verstehen, dass „dies“ nicht noch einmal vorkommen sollte. Ansonsten müsse er ein „ernstes Wort“ mit mir reden. Das „ginge nicht“. Er erteilte mir eine indirekte Abmahnung. Auch dies scheint kein Einzelfall zu sein.

Von einer Kollegin ist bekannt, dass ihr Arzt eine verkürzte Sehne am Handgelenk feststellte. Eine Operation würde notwendig, um die Schmerzen zu beheben. Der Arbeitgeber drohte dagegen mit Kündigung. Nun nimmt die Kollegin täglich Schmerztabletten zur Arbeit und muss darauf warten, sich Urlaub für die Behandlung nehmen zu können. Viele der Beschäftigten klagen auch auf Grund der harten Arbeit über gesundheitliche Beschwerden. Es gibt Probleme mit den Beinen vom unentwegten Stehen und Gehen, Rückenbeschwerden und eine große Anfälligkeit für Grippe und ähnliche Krankheiten. Eine Zehnstunden-Tagesschicht bedeutet, dass man kein Sonnenlicht zu Gesicht bekommt.

Trotzdem nehmen viele diese Arbeitsbedingungen aus verschiedensten Gründen in Kauf. Ich habe schon mehrere Fälle erlebt, in denen Menschen auf der Toilette kotzten, um sich anschließend wieder an den Arbeitsplatz zu stellen und weiter zu machen. Unter den Beschäftigten gibt es einen großen Frauenanteil, etwa 70 bis 80 Prozent. Außerdem ist der Anteil ausländischer ArbeitnehmerInnen, insbesondere polnischer und russischer Herkunft sehr hoch. Selbst alleinerziehende Mütter, die zu Hause noch Kinder zu versorgen haben, gibt es hier sehr viele. Wenn nach der Arbeit etwas Zeit bleibt, dann kümmern diese Menschen sich um ihre Kindern, waschen Wäsche, putzen und kochen. Da bleibt wenig Zeit für Freunde.

Keine Zeit für gesellschaftliches Engagement

Erst Recht bleibt keine Zeit für gesellschaftliche oder politische Betätigung, selbst wenn Interesse daran besteht. Dies kommt noch zu den ohnehin schwierigen Bedingungen, in einer Zeitarbeitsagentur einen Betriebsrat zu gründen, hinzu. Die einzelnen Agenturen vor Ort haben oftmals nicht genug MitarbeiterInnen für einen von der Arbeit freigestellten Betriebsrat. Erst durch die Betätigung in verschiedenen Filialen ließe sich ein Gesamtbetriebsrat gründen. Die MitarbeiterInnen selbst sind nicht alle in denselben Unternehmen beschäftigt und schließlich muss ein Betriebsrat, der gewählt werden will, bereits sechs Monate in einem Unternehmen beschäftigt sein. Dies alles sind Hindernisse, die zu den Androhungen von Seiten des Arbeitgebers erschwerend hinzu kommen, wenn auch eine Arbeitnehmervertretung nicht unmöglich wäre.
Für diese ArbeitnehmerInnen wären gesetzliche Änderungen, wie die Einführung eines Mindestlohnes, die beste und einfachste Variante. Welche anderen Möglichkeiten der Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch die ArbeitnehmerInnen, etwa gemeinsam mit den Gewerkschaften, es noch gibt, muss wohl weiter genau ausgelotet werden.
   










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