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Vom Leben zwischen den Stühlen
GESELLSCHAFT | NACH DER UNI (15.12.2005)
Von Magnus Enxing
Rein - raus, Hin - Her, Norden - Süden, Hallo - Tschüss. Das Irgendwie im Nirgendwo eines präberuflichen Chamäleons - ein Praktikantendasein.

"18.15 h? ? Wo? ? Wohin? ? Wie ist der Preis? ? Und welche Farbe? ? Alles klar, bis dann!"
Verdammte Sonntage! Die letzte von 42 Stunden Wochenende verrinnt. Rucksack packen - den kleinen, nicht den großen, der ist schon da -, Tasche packen. Nichts liegen gelassen? Laptop dabei, Netzkabel nicht vergessen? Für sowohl als auch. Ciao, ? bis nächste Woche!
Tränen gibt es keine mehr, doch spürt man beinahe noch die getrockneten vom letzten Mal, weil der Abschied nie zur Gewohnheit wird. Spätestens ab Sonntagmittag wird man immer mit einem zunehmend unangenehmer werdenden Nicht-Gelernt-Am-Abend-Vor-Einer-Arbeit-Gefühl zwischen Oberbauch und Zwerchfell belästigt.
"Fahre unregelmäßig an Sonntagabend bzw. Montagmorgen nach Hamburg. Wagen ist ein MB A Klasse BJ 2002, Farbe ist grün mit einem wunderschönen Panoramaschiebedach." Ich halte also am Treffpunkt Ausschau nach besagtem Kfz, das schließlich auch eine Punktlandung macht und zum vereinbarten Zeitpunkt einrauscht. Nach den üblichen Formalitäten sind alle an Bord. Im Auto stellt sich heraus, dass das Schiebedach an sich gar nicht wunderschön ist und schon gar kein Panorama bietet. Der Text war wohl eher für die Sommermonate geschrieben. Dem Inserat konnte man auch die sture Unfreundlichkeit des Fahrers nicht entnehmen, der einen partout keine Ausfahrt vorher absetzen will. Könnte ja fünf Minuten seiner Zeit beanspruchen. Also nehme ich die U-, dann die S-Bahn und schließlich den Bus, was alles in allem schlappe 45 Minuten dauert. Für die ökonomisch als auch ökologisch attraktivste Art der Motion zwischen zwei Städten nimmt man aber auch solche Lapalien in Kauf, wenngleich nur zähneknirschend.

Am nächsten Tag - Montag, was sonst? - wird das Rabattmarkenheft zukünftiger Arbeitgeber weiter mit Referenzbonuspunkten gefüllt. Vielleicht ist ja bald mal eine Prämie drin. Doch im Gegensatz zur verlässlichen Größe im Supermarkt, im Kaufhaus oder bei der Tankstelle, ist der Arbeitsmarkt auf diesem Sektor weit launischer. Doch gesunder Optimismus lässt solche Gedanken nicht zu - zumindest vorerst.
Das alte Lied von potentiell vorhandenen Beschäftigungskapazitäten, die durch Praktikanten ausgefüllt werden, ist in nahezu allen Bereichen ein Evergreen - in den einen klingt er lauter als in anderen und in wieder anderen lässt dieser Arbeitsmarktblues den Ohrenhammer extrem auf den Amboss knallen. Die Zeiten, da ein Praxissammler zu niederen Tätigkeiten wie Kaffeekochen abgestellt ist, sind definitiv vorbei. Solche Handlangungen sind zwar auch noch gerne gesehen und dienen der vorteilhaften persönlichen Gesamtdarstellung. Das generelle Aufgabenfeld, glänzt die Arbeitskraft nicht durch vollkommene Debilität, ist schon ein sehr anspruchsvolles und würde bei Nichterledigung ganz regulär in das Feld der Festangestellten fallen. So ernten viele Unternehmen, was sie nicht gesät haben und es verwundert einigermaßen, wie dieser einseitige Fluss aufrecht erhalten werden kann, zumal die Betriebsstäbe demografisch gesehen vorwiegend aus Angestellten des dritten Lebensfünftels rekrutiert und Stellen somit auf lange Zeit besetzt sind.

So schön es auch ist, wenn die wöchentlich reinflatternden Verkaufszahlen stimmen, richtig auch, wenn sie einen Orientierungspunkt über die tägliche Rackerei en gros liefern, doch werden sie zum alleinigen Parameter für die Qualität des Geleisteten, dann ist das System im Begriff sich totzulaufen. Ein vollgetanktes Auto legt schließlich auch nur eine bestimmte Strecke zurück und bleibt unwiderbringlich liegen, wenn kein zusätzlicher Treibstoff nachgefüllt wird. Über einen etwaigen Brain-Drain müssen sich die entsprechenden Fachleute nicht wundern, wenn systematisch einigermaßen ansprechende Perspektiven selbst bei klar vorhandener Lösungsmöglichkeit wissentlich vermieden werden.
Ein Studienabgänger steht derzeit von vielerlei Seiten unter Druck: Das demografische Damoklesschwert hängt über einem - ob in Form von Familienplanung oder Altersvorsorge, dem vermeintlich verspürten schärferen Blick der Gesellschaft allgemein ("Wann wird der denn mal was zum Gemeinwohl beitragen?") und nicht zuletzt der unmittelbaren eigenen sozialen Umgebung wie Familie, Freunde und Bekannte.
Die teilweise mitleidigen Zuwendungen der näheren Umgebung kann man während der großen Praktikumsschleife leicht durch die hohe Fluktuation von flüchtigen Bekanntschaften ausgleichen. Wenn Stellenanzeigen immer wieder lauthals fordern, der Bewerber müsse über guten Umgang mit anderen Menschen verfügen, sprich teamfähig sein, dann ist das Umherziehen von Stadt zu Stadt, von Betrieb zu Betrieb, von WG zu WG das denkbar beste Trainingsprogramm, oder halt - Traineeprogramm. Dabei ist kein einziger der Kontakte, wo auch immer geknüpft, darauf angelegt, eine potentiell längere Beziehung zu entwickeln, da keine der beiden Seiten eine kontinuierliche Konstante hinter der temporären menschlichen Beziehung vermutet. Weder Arbeitgeber und Kollegen noch WG-Bewohner oder man selbst visiert eine wirklich persönliche Bindung an in dieser Zeit. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel, doch die Prämissen gehen in die beinahe schon anonyme Richtung.

Mitunter widerfahren einem aber auch sehr angenehme Dinge: Besoffene Kollegen auf dem Oktoberfest, Gerhard Schröder mit Tom-Waits-Röhren-Wahlkampf-Organ auf dem Marienplatz, TSV-MSV (leider mit schlechtem Ausgang für die Guten), hervorragende und weniger ausgeklügelte Systeme von öffentlichen Verkehrsmitteln, Kiez, Dosenbier und Frühstück machende Mitbewohner. Abstruserweise sind es zum Teil nämlich genau die vermeintlichen Negativpunkte solch einer Spanne des Ungefähren, die es schließlich doch lohnend machen, solche Projekte durchzuziehen, ja sie sogar reizvoll zu finden. Man ist nirgendwo und überall zu Hause und erfährt so eine ganz neue Unabhängigkeit, die man zwar nicht unbedingt wollte oder brauchte, doch von deren Existenz zu wissen irgendwie auch beruhigt.
Dieser seltsame Lebenszustand eines aufwachenden Träumers in der Realität wird verstärkt befördert durch die vielfach eingesetzte Kommunikationstechnik. Wann zuvor konnte man innerhalb von fünf Tagen ein Zimmer für zwei Wochen trotz einer geographischen Distanz von mehr als 800 Kilometern festnageln? Und wie hießen früher noch die Agenturen, bei denen man sich nach Mitfahrgelegenheiten erkundigen konnte? Heute ist nichts anderes mehr nötig als fünf Minuten Zeit und ein Telefongespräch, um am nächsten Tag an den Ort der Verheißung zu gelangen. Wie hat man jemanden über die eigene Verspätung informiert, während man selbst noch im Bus saß? Mittlerweile alles planbar, transparent und vollkommen selbstverständlich. Mobilität von der Hardware eines PCs bis zur Software einer Beziehung. Bei allem flexiblen movement ist es nicht immer einfach, die mittlerweile etablierten persönlichen Konstanten adäquat im Blick zu halten. Allen die sich von mir vernachlässigt fühlen trage ich an dieser Stelle demütig meine Entschuldigung an. Doch ein einem Marktsegment zuarbeitenden jungen Mann mit 30 Jahren Unerfahrenheit auf dem Buckel und weiteren X Jahren der Unbezahltheit auf zukünftiger Halde geht manchmal einfach die Zeit aus, doch die hoffnungsvollen Perspektiven bleiben - trotz allem.
   









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