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Zwischen Routine und Reform - Hochschulen, wofür eigentlich?
GESELLSCHAFT | BILDUNGSBEREICH (15.05.2007)
Von Jörg Rostek
Erinnerst Du Dich noch daran, wie Du als ErstsemesterIn in die Hochschule kamst, voller Hoffnung, gierig nach Wissen und in dem Glauben, nun beginne ein neuer Lebensabschnitt? Ein Stück vom Glück?

Dachtest Du, die Hochschule sei ein Ort, wie er in dem Roman „Club der toten Dichter“ von Nancy H. Kleinbaum beschrieben wird? Wo Du Wissen erfährst, das Dich zur Erkenntnis führt, das Staunen und die Faszination kein Ende hat und der mit Lehrkräften bevölkert ist, die Dir helfen, Deinem Ziel, die Welt (für alle Menschen) lebenswerter zu machen, näher zu kommen?

Die Dialektik des Dünnbrettbohrens

ForscherInnen der Universität Halle haben sich von 2001 bis 2004 mit der Frage beschäftigt, wie sich Schülerinnen und Schüler während des Unterrichts verhalten – und haben sich gefragt, was ihr Verhalten prägt. Georg Breidenstein und seine beiden KollegInnen Hedda Bennewitz und Michael Meier stellten bei der Beobachtung von Schulklassen fest, dass zwei Dinge die Kinder beeinflussen: der Unterricht, der durch die Lehrperson ausgeht und die "Erwartungen und Normen der Kultur in der Gleichaltrigengruppe"[1].

Schüler, Lehrer und Publikum beeinflussen sich also gegenseitig. Klingt banal und ist es auch, führt aber laut Breidenstein zur Ökonomisierung des SchülerInnenverhaltens. Um den Spagat der Beliebtheit zwischen MitschülerInnen und Autorität zu vollziehen, haben vor allem Gymnasialstufen Techniken herausgebildet, die bis zum achten Schuljahr perfektioniert sind. Eine Routine ist entstanden. Die SchülerInnen haben den Lehrkörper erkannt und festgestellt, was er hören will und suchen den Weg des geringsten Widerstandes. Sie sind DienstleisterInnen geworden und liefern das Nachgefragte unter möglichst geringem Aufwand. Es gilt, die Fächer herauszufinden, bei denen man „auf der Kippe“ steht, um sich dann in denselben, und nur dort, reinzuhängen. Besonders beliebt ist Melden, ohne die richtige Antwort zu kennen. Die Wahrscheinlichkeit aufgerufen zu werden ist schließlich nicht sehr hoch. Der Schein des Wissens schlägt sich allerdings in der Note nieder. Ist der Tag zu Ende, ist der „Job“ getan.

Sklaven des Stundenplans

Setzt sich das in den Hochschulen fort? Der Marburger Soziologe Dirk Kaelser meint über die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen folgendes: „Das Studium ist verschult worden. Studierende verhalten sich zunehmend wie Schülerinnen und Schüler. Sie planen die Semester nach teilweise sklavisch befolgten Stundenplänen. Sie haben nicht mehr die intellektuelle Freiheit, sich um interessante Themen zu kümmern. Jeder hat zumindest mental sein Rabattmarkenheftchen dabei. Da ist nicht vorgesehen, noch Veranstaltungen über Ethik in der Wissenschaft zu besuchen.“ [2]

„Generation Google?“

Als Studierende noch Schüler waren, schrieben sie ab. Heute gehören sie zur sogenannten „Generation Google“ und schmücken sich dank „copy and paste“ mit fremden Federn [3]. Nicht alle tun dies, aber die Anforderungen werden immer größer, der Zeitdruck wächst – ebenso steigen die finanziellen Belastungen für die Studierenden. Ein Hochschulsenat, so hat es der Wortführer der Professoren der Universität Münster einmal gesagt, sei (nur) für die Hochschulen da. Diese müssten im nationalen und internationalen Wettbewerb „bestehen“.
Die Studierenden und eine kritische, emanzipierende, demokratisierende und aufklärerische Bildung bleiben dabei auf der Strecke. Strukturen erzeugen Verhaltensweisen erzeugen Strukturen.

Jörg Rostek

Manche haben die Bildung in Deutschland schon zu Grabe getragen. (c) Jörg Rostek

Betonaufschüttungen und Bunker

Der erst kürzlich siebzig gewordene Philosoph Reinhard Brandt, der die deutschen Universitäten in seiner Abschiedsvorlesung „Betonaufschüttungen der niederen Preisklasse“ und „Bunker für eine fluktuierende Masse“ nannte, moniert, dass Schulen die Bildung verachten und vertritt die, unter den Professorinnen und Professoren der Gegenwart selten verbreitete Meinung, dass die Politik sich dem Unterhaltungssektor und der Wirtschaft an den Hals werfe. Marketing bezeichnet er als „Fassadenkonstruktionen“; die These, man könne in sechs Semestern ein fachwissenschaftliches LehrerInnenstudium absolvieren, verhöhnt er.
Die Hochschulen, so Reinhard Brandt, seien in den Ruin getrieben worden und zwar nicht von den Studierenden, sondern von den RektorInnen. Sätze, die zu denken geben.
Axel Honneth, Philosophiedozent an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Geschäftsführer des einst von Adorno und Horkheimer geleiteten Instituts für Sozialforschung und Autor des Buches „Verdinglichung – Eine anerkennungstheoretische Studie“ beschreibt, was von einer breiten Öffentlichkeit unbemerkt vor sich geht: „Nur Schlimmes, muss ich gestehen. Ich glaube, dass alle Reformen, die derzeit unternommen werden, sich die eigenen Voraussetzungen und Konsequenzen nicht hinreichend klar gemacht haben und es an einer generellen Zielbestimmung mangelt. Die Ökonomisierung der Universitäten schreitet fort, während die Idee der universitären Bildung aus dem Blick gerät.“

Und tschüss?

Er scheint recht zu haben. In Nordrhein-Westfalen sollen nun die Lehramtsstudiengänge beschnitten werden. Erdkunde für angehende Lehrerinnen und Lehrer wird, wenn das Rektorat der Universität Diusburg-Essen sich durchsetzt, bald Geschichte sein. Die Fächer Musik und Kunst stehen, wenn die Entscheidung nicht schon im dortigen Senat abgesprochen wurde, an der Uni Bielefeld bereits auf der Kippe. [4] Ebenso wird der Fachbereich Soziologie an der Uni Münster bis zur Unkenntlichkeit zurammen gekürzt. Studierende haben bereits Proteste angekündigt.

Ein Dozent in den Niederlanden hat in einer Zeitung folgendes gesagt: „Früher brachen periodisch bildungsstürmerische Reformbewegungen über den Bildungsbereich herein. Heute ist Bildung reines Business. Studenten und Hochschulen kämpfen gegen Rentabilitätsvorgaben und politische Windmühlen, die sich immer schneller drehen. Nur weiß eigentlich keiner mehr, wofür eigentlich.“ [5]

Ob den Schülerinnen und Schülern jemals die Chance gegeben wird, ein kritisches Bewusstsein mit demokratischen Zügen zu entwickeln, wird somit zunehmend fraglicher. Der Schaden ist noch gar nicht abzusehen. Zeit spielt im Betrieb der Hochschule keine Rolle mehr. Dabei braucht wissenschaftliche Kreativität Freiheit; besonders die Freiheit von ökonomischen Zwängen. Zeit als Ressource wird aus Gründen der Effizienz momentan eingeschränkt. In einer renommierten Schweizer Tageszeitung bemerkte trefflicher Weise erst kürzlich ein Autor, dass Immanuel Kant siebenundfünfzig Jahre alt war, als er seine „Kritik der reinen Vernunft“ veröffentlichte und die Publikation seines kritischen Gesamtwerks begann. „Hätte dieses Werk im wissenschaftlichen Umfeld der heutigen Universität eine Chance gehabt?“ [6] Die Frage ist berechtigt. Echte Innovation braucht Zeit.

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[1] Breidenstein, Georg: Melden, melden, melden, in: tageszeitung, 11. April 2007, S. 18.
[2] Coordes, Gesa: Studenten verhalten sich wie Schüler, in: Frankfurter Rundschau, 27. April 2007, S. 26.
[3] Gerhardt, Franziska: Fremde Federn, in: European Students Review work out, Nr. 38, S. 5.
[4] Kok, Elmar: Lehramt: Unis kürzen Studium, in: taz nrw, 8. Mai 2007, S. 2.
[5] Schlösser, Christian: Windmühlen der Hochschulpolitik, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 95, S. 25.
[6] Maulshagen, Franz: Hat die Universität als Ort guter Forschung und Lehre eine Zukunft?, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 99, S. 25.

   






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