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Jede Fahrt eine Drogenfahrt
GESELLSCHAFT | CANNABIS UND FÜHRERSCHEIN (07.02.2014)
Von Michael Billig
Ein Bier ist kein Problem. Ein Joint schon, selbst wenn der Konsum ein paar Tage her ist. Wer in Deutschland in eine Verkehrskontrolle gerät und positiv auf Cannabis getestet wird, verliert seine Fahrerlaubnis. Der Suchtberater Theo Pütz kritisiert diese Praxis und regt in seinem neuen Buch "Cannabis und Führerschein" eine differenzierte Sichtweise an.

Nachtschatten Verlag

(c) Nachtschatten Verlag

Theo Pütz schickt vorweg, dass bei ihm keine Zweifel an der Gefahr einer Rauschfahrt bestehen. "Wer unter der akuten Wirkung von Cannabis am Kraftverkehr teilnimmt, gefährdet nicht nur sich selbst, sondern auch andere Verkehrsteilnehmer", schreibt er. Ein Satz, der zunächst wie ein reumütiges Eingeständnis klingt, den man aber sehr genau lesen sollte. Denn was Pütz unter "akuter Wirkung" versteht, bleibt in seinem fast 180 Seiten umfassenden Buch etwas nebulös. Auch der Experte scheint sich in einem entscheidenden Punkt unsicher zu sein: Wieviel ist zu viel?

Strenger Grenzwert in Deutschland

Die Polizei nutzt verschiedene Testverfahren, um den Konsumenten auf die Schliche zu kommen. Üblicherweise folgt auf einen Schnelltest - das kann eine Urin- oder Schweißprobe sein - der Bluttest. Im Blut lässt sich der Cannabiswirkstoff Tetrahydrocannabinol, kurz THC, nachweisen. Da kann der letzte Joint auch schon ein paar Tage her und der Rausch längst verflogen sein, im Blut lassen sich dennoch Spuren entdecken. Kritisch daran ist: Für THC gilt in Deutschland nahezu eine Null-Promille-Grenze. Wer der Polizei mit mehr als 1 Nanogramm (ng) pro Milliliter (ml) ins Netz geht, verliert seinen Führerschein.
Der strenge Grenzwert ist laut Pütz ein rein analytischer Wert, festgelegt von einer im Buch nicht näher betrachteten Kommission. Dieser Wert sagt nichts über die Wirkung von Cannabis auf die Fahrtauglichkeit aus, wie der Autor kritisiert. Schon gar nicht lasse sich daraus auf einen erst kurze Zeit zurückliegenden Konsum schließen, wie es offenbar der Gesetzgeber tut.
Der Autor führt eine Studie an, nach der erst bei einem THC-Wert von 20 bis 30 ng/ml "für die Verkehrssicherheit wesentliche Leistungseinschränken zu erwarten sind". Eine andere, ebenfalls im Buch angeführte Untersuchung ergab, dass ab 5 ng/ml mit "signifikanten Beeinträchtigungen" zu rechnen ist.
Pütz hält die Null-Toleranz-Politik gegen kiffende Autofahrer für falsch und ungerecht. Er zweifelt die Aussagekraft der Testverfahren und ihrer Ergebnisse an, schlägt aber selbst einen Grenzwert vor, nennt ihn nur anders: "Gefahrengrenzwert". Pütz orientiert sich bei seinem Vorschlag an den erwähnten Studien und plädiert für 5 bis 10 ng/ml. Im US-Bundesstaat Colorado, wo Cannabis im vergangenen Jahr legalisiert wurde, liegt die Grenze für Autofahrer bei 10 ng/ml.
Wieviel ein Kiffer konsumieren darf, bis diese Schwelle erreicht ist, verrät Experte Pütz nicht. Das kann er auch gar nicht, denn die Beantwortung dieser Frage hängt von mehreren Faktoren wie etwa Konsumhäufigkeit, Cannabis-Qualität und Stoffwechsel des Konsumenten ab.

THC bis zu 12 Tage im Blut nachweisbar

Pütz' "Gefahrengrenzwert" hat vor allem eine Intention: Gerechtigkeit. Denn fragwürdige Praxis in Deutschland ist, dass selbst Autofahrer ihren Führerschein einbüßen, die am Steuer gar nicht unter dem Einfluss von Cannabis stehen, denen aber dennoch der Konsum nachgewiesen werden kann. THC braucht nach aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis bis zu 12 Tage, um sich vollständig im Blut abzubauen. Als Carbonsäure, ein Abbauprodukt von THC, lässt sich das Rauschmittel sogar bis zu sechs Wochen später aufspüren. Da kann auch für Gelegenheitskonsumenten jede Fahrt eine Drogenfahrt darstellen - und somit ein Risiko für die Fahrerlaubnis.
Doch hierzulande darf sich nicht mal der in Sicherheit wiegen, der bei einer Polizeikontrolle gar nicht im Auto sitzt. Es reicht, wenn ein Besitzdelikt vorliegt und die Führerscheinstelle Wind davon bekommt. Dann kann die Behörde - selbst wenn es nicht zu einer strafrechtlichen Verurteilung kommt - die Fahrtauglichkeit in Frage stellen und einen Drogentest anordnen.
Wer daran denkt, Widerspruch oder andere Rechtsmittel gegen einen drohenden Führerscheinentzug einzulegen, dem nimmt Pütz die Hoffnung:
"Die Klagemöglichkeiten für Betroffene sind beschränkt, selten von Erfolg gekrönt und haben darüber hinaus nur Auswirkungen auf den Einzelfall. Im Zweifelsfall wirken sie sich sogar negativ auf die Begutachtung aus."

Kein Cannabis-Konsument ist sicher

Der Autor beklagt zurecht fehlende Verhältnismäßigkeit, etwa mit Blick auf den viel toleranteren Umgang mit Alkohol. Pütz macht an etlichen Beispielen deutlich, wie die Mühlen der Behörden, kommen sie erst einmal in Gang, mahlen. Dass, wer einmal erwischt wurde, ihnen nicht entkommt. Selbst Menschen, die Cannabis aus medizinischen Gründen zu sich nehmen, können in ihr Mahlwerk geraten. Immerhin lohnt es sich in diesen Fällen, vor Gericht dagegen anzukämpfen.
Für alle anderen führt der Weg zurück zum Führerschein nur über die sogenannte Fahreignungs-Begutachtung, auch als MPU oder "Idioten-Test" bekannt. Pütz widmet diesem Thema mehrere Kapitel. Insofern sind seine Ausführungen ein guter Ratgeber für alle Betroffenen.
Ansonsten ist "Führerschein und Cannabis" vor allem eines: ein Appell an Politik, Behörden und Gesellschaft, sich differenziert mit der Problematik zu beschäftigen. Das Buch bietet dafür eine fundierte Grundlage.

Theo Pütz: Cannabis und Führerschein
Nachtschatten Verlag, 2013
ISBN: 978-3-03788-279-5
176 Seiten, 23 Euro

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