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Das große Pottwal-Puzzle
UMWELT | RIESEN DER MEERE (12.10.2012)
Von Michael Billig
Der Abstecher in die Nordsee endete für einen Pottwal tödlich. Jetzt soll er ins Museum. Die Präparatoren stehen vor einem riesigen Puzzle. Wir haben sie besucht.

Kriegs/LWL

Der gestrandete Pottwal wurde im Küstenort Meldorf an Land gezogen. Jetzt kommt er ins Museum. (c) Kriegs/LWL

15 Meter lang und 30 Tonnen schwer - stolz und mächtig kreuzte er einst durch Weltmeere. Er überwand Tausende Seemeilen, konnte wie seine Artgenossen bis zu drei Kilometer tief tauchen und jagte Riesenkraken. Doch eines Tages, auf seiner Wanderschaft vom Eismeer bei Grönland in den atlantischen Ozean verirrte sich der Pottwal in die Nordsee. Im November vergangenen Jahres strandete er auf einer Sandbank und starb. Sein Leben hatte ein Ende. Sein Körper aber setzte die Reise fort. Ein Fischer hatte den Kadaver entdeckt und ihn mit einem Boot zur Nordsee-Insel Pellworm geschleppt. Von dort ging es weiter zum Küstenort Meldorf.

Messer und Skalpell im Gepäck

Ungefähr in dieser Zeit klingelte im Büro von Werner Beckmann das Telefon. Ein Anruf aus Meldorf. Beckmann ist Präparator am Naturkundemuseum in Münster. Das Museum im Landesinnern bereitete eine große Wal-Ausstellung vor, was noch fehlte war ein eigener Meeresriese. Und der stand nun in Aussicht. Als Beckmann von dem gestrandeten Wal erfuhr, machte er sich sofort auf den Weg an die Nordsee. Messerschärfer, Messer und Skalpelle im Gepäck. Beckmann wollte dabei sein, wenn der Gigant in seine Einzelteile zerlegt wird. Der Präparator ist derjenige, der ihn später wieder zusammensetzen muss.

Über den weiß gekachelten Boden verteilen sich kleine Wasserlachen. Sie sind blutrot getrübt. Als habe jemand einen Pinsel darin ausgewaschen. Ein Fenster steht offen. Kalte Frischluft mischt sich mit dem Geruch des Todes. Sie kann ihn aber nicht vertreiben. Im Sektionsraum des Naturkundemuseums in Münster riecht es nach Verwesung.
Ein Kühlschrank summt. Hinter seiner weißen Tür verbergen sich in winzigen Glasgefäßen Gewebeproben des Pottwals. In einer Salatschüssel befindet sich ein Auge, fast so groß wie ein Tennisball.
Das vielleicht beste Stück des Wal liegt ausgestreckt auf zwei zusammengestellten Tischen: der Penis. Bei einem Meeresriesen ist alles etwas größer, auch das Glied. Es ist mehr als anderthalb Meter lang und wiegt knapp 50 Kilogramm. Präparator Beckmann schlüpft in einen weißen Kittel und zieht Gummihandschuhe über. Dann greift er zu Papiertüchern und tupft mit ihnen den Walpenis behutsam ab. Hier und da löst sich die obere Hautschicht. "Die Fäulnis hat bereits eingesetzt", stellt Beckmann fest. Er muss sich beeilen und das Glied einfrieren, um es vor der Verwesung zu bewahren. Doch vorher will Beckmann noch einen Gipsabdruck nehmen.


Knochenarbeit

Die Zerlegung des Kadavers im Küstenort Meldorf zog viele Schaulustige an. "Der Wal musste mit zwei Treckern aus dem Wasser gezogen werden", erinnert sich Beckmann an ein Spektakel. "Beim ersten Versuch war das Seil gerissen", erzählt er. Später, das Tier war inzwischen an Land, wurde mit langstieligen Messern seine Speckschicht in Streifen abgezogen. "Sie war an manchen Stellen 20 Zentimeter dick", berichtet Beckmann. Danach sei man durch Muskelgewebe zu den Organen und dem Skelett vorgestoßen. "Es war eine Knochenarbeit und hat gestunken wie die Pest", sagt der Präparator aus Münster, dessen Nase einiges gewöhnt ist.
Mit Walzähnen, beiden Augen, Beckenknochen, Schulterblatt, Teilen von Darm und Magen sowie dem Penis kehrte Beckmann in seine Werkstatt zurück. Der Rest des aus rund 100 Knochen bestehenden Walskeletts wurde auf einem Lastwagen nach Stralsund ins Deutsche Meeresmuseum verfrachtet. Dort existiert die bundesweit einzige Anlage, um so riesige Knochen zu behandeln. Bei der Anlage in Stralsund handelt es sich um eine Spezialanfertigung. Sie besteht aus einem Schiffscontainer, der mit einer Heizung, Rohren und Wasseranschlüssen ausgestattet ist.

Warmwasserbad

Uwe Beese, Chefpräparator des Deutschen Meeresmuseums, klettert an einer Leiter den blauen Container hinauf. Oben angekommen blickt er durch eine offene Luke auf das, was von dem Pottwal übrig ist: Schädel, Rippen, Wirbel und Kiefer - alles liegt durcheinander. Fleischfetzen hängen an den Knochen und strömen einen Duft aus wie in Beckmanns Sektionsraum. "Sie gammeln vor sich hin. Die Knochen bluten aus", sagt Beese. Eigentlich sollten sie schon in einem Warmwasserbad liegen. Bei 40 Grad würden Bakterien die Verwesung beschleunigen und die Knochen von dem Fleisch befreien. Mazeration nennen Fachleute diesen Prozess, der mit einem Bad in Seifenlauge endet. Doch wegen Frostgefahr - es war inzwischen Anfang Januar - sei die Anlage derzeit nicht in Betrieb, sagt Beese.
Bevor es die große Mazerationsanlage in Stralsund gab, wurden Walknochen zur Verwesung vergraben. Es dauerte manchmal länger als ein Jahr, ehe man sie wieder ausbuddeln konnte. Das war Präparator Beese zu lang. Auf der Suche nach einer Alternative kam er auf die Container-Idee.
Beckmanns Werkstatt in Münster ist für den kompletten Wal schlicht zu klein. Zur Ausstattung gehört zwar auch eine Mazerationsanlage. Doch da passt gerade das Schulterblatt des Meeresriesen hinein. Ein Rinderschädel musste dafür weichen. Beckmann arbeitet seit mehr als 40 Jahren als Präparator. Er präpariert die Tiere, die in den Auen, Feldern und Wäldern des Münsterlandes Zuhause sind, darunter viele Mäuse. In der Regel landen bei ihm auch Bussarde und Eulen auf dem Sektionstisch. Manchmal kommt ein Tier aus dem benachbarten Zoo. Etwa die Giraffe, die heute ausgestopft im Naturkundemuseum thront. Sie war das bislang größte Geschöpf, das durch Beckmanns Hände ging. Einen Pottwal hatte er noch nie.

Kiefer, Flossen, Wirbelsäule

Beim Zusammenpuzzeln des Skeletts kann eine Menge schiefgehen. Kiefer, Flossen und Wirbel - alles muss später richtig sitzen. "In vielen Museen sind Walskelette falsch aufgehängt", sagt Experte Uwe Beese. Er selbst hat schon viele Wale, kleine und große, auseinandergenommen und wieder zusammengefügt. Einer davon, ein Pottwal, schwebt im Ozeaneum in Stralsund, dem größten meereskundlichen Ausstellungshaus Deutschlands, über den Köpfen der Besucher. Das Skelett ist beinah schneeweiß - das Ergebnis der Mazeration.
Die Wirbelsäule ist so geschwungen, als setze der Wal gerade zu einem Tauchgang in die Tiefe an. Die Brustflossen erinnern an ausgestreckte Fingerknochen. Präparator Beese spricht ganz bewusst von Händen - ein Hinweis darauf, dass Menschen und Wale möglicherweise gemeinsame Vorfahren haben. Der Schädel und Kiefer des Meeressäugers laufen - anders als die Pottform des Kopfes vermuten lässt - schnabelförmig zu. Elfenbeinhaltige Zähne ragen hervor. Der Pottwal gilt als das größte bezahnte Tier der Welt. Männchen können 21 Meter, Weibchen 13 Meter groß werden. Das Skelett im Ozeaneum stammt von einem Pottwalbullen, der vor zehn Jahren mit zwei Artgenossen an der Nordsee-Küste gestrandet war.

Warum sich Wale in die Nordsee verirren

Über die Gründe, warum sich Pottwale in der Nordsee verirren, wird viel gerätselt. Wale orientieren sich bekanntlich über akustische Signale. Nicht nur Walschützer, sondern auch Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Geräusche von Schiffen, Bohrinseln und Windkraftanlagen die Tiere in die Irre führen. Präparator Beese deutet die Strandungen anders. Sie zeigten, dass die Population der bedrohten Meeressäuger wieder angestiegen sei. "Die Wahrscheinlichkeit ist höher, dass sich ein Pottwal auch mal in der Nordsee verirrt", begründet er seine Theorie.

In Münster betritt Beckmann eine dunkle Kammer neben dem Sektionsraum. Es stinkt bestialisch. Beckmann knippst das Licht an. Mumifizierte Tiere in Glaszylindern werfen plötzlich Schatten. In einem Bottich mit Formalin treibt zwischen einem konservierten Chamäleon und einer Fledermaus das zweite Auge des Pottwals. Dieser Raum ist ein kleines Gruselkabinett.
Beckmann geht unbeeindruckt auf die Mazerationsanlage zu. Sie steht da wie eine Schatztruhe. Der Präparator klappt den Deckel hoch. Eine braune Soße kommt zum Vorschein und ein strenger Verwesungsgeruch steigt auf. Beckmann fischt mit behandschuhten Fingern das Schulterblatt des Pottwals aus der Suppe. Kleine Fleischreste kleben noch an dem Knochen. Die Bakterien haben in ihrer Wohlfühlatmosphäre aber schon gute Arbeit geleistet. Beckmanns Mund formt sich zu einem Lächeln. Doch er weiß, dies ist nur ein Teil in dem großen Pottwal-Puzzle.

Michael Billig hat die Geschichte des gestrandeten Pottwals Ende vergangenen und Anfang dieses Jahres recherchiert. Sein Text ist im Kölner Stadtanzeiger und in der Neuen Osnabrücker Zeitung erschienen. Für iley hat er ihn aktualisiert.
Die Wal-Ausstellung im Naturkundemuseum in Münster wurde Mitte September eröffnet - allerdings ohne den Pottwal. Lediglich ein Auge und der Penisabdruck sind zu sehen. Die Knochen aus Stralsund werden zwar bald in Münster erwartet. Aber in die Ausstellung schaffen sie es laut Präparator Beckmann nicht mehr.


Weiterführende Links
http://www.meeresmuseum.de/Deutsches Meeresmuseum
http://www.ozeaneum.de/Das Ozeaneum in Stralsund
   




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