Die Rückkehr zur Wildnis
UMWELT | ENTWICKLUNG IN DEUTSCHLAND (12.07.2010)
Von Michael Billig | |
Die unberührte Natur ist eine romantische Vorstellung. In Deutschland einen Flecken Erde zu finden, der diese Bezeichnung wirklich verdient, ist schier unmöglich. Doch die Rückkehr zur Wildnis ist bereits eingeläutet. Natur und Mensch - in einigen Gebieten soll sie sich bald ohne ihn entwickeln können. (c) iley.de Lebensraum für bedrohte Arten Wildnisgebiete sind Orte, an denen sich die Natur völlig frei entfalten kann. Das unterscheidet sie von Naturschutzgebieten und Nationalparks, wo der Mensch eingreift, um eine bestimmte Kulturlandschaft zu pflegen. Bäume in Deutschland sollen künftig wieder älter als 120 Jahre werden dürfen. Bestimmte Insekten seien darauf angewiesen, sagt Peter Finck. Insekten, die wohlgemerkt auf der roten Liste der bedrohten Arten stünden. Aber auch Wolf, Luchs und seltenen Pflanzen böten Wildnisgebiete einen neuen Lebensraum. Finck ist Biologe beim Bundesamt für Naturschutz (BfN). Er weiß, dass es wirklich unberührte Natur hierzulande gar nicht mehr gibt. Am ehesten würde er die Kernzentren von Nationalparks und ehemalige Truppenübungsplätze, die jahrelang vor sich hin vegetieren, noch als Wildnis bezeichnen. Groben Rechnungen zugolge machen sie zusammen 0,6 Prozent der gesamten Landesfläche aus. Um das von der Bundesregierung in der sogenannten Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt vor drei Jahren formulierte und bis 2020 gesteckte Ziel von zwei Prozent erreichen zu können, appelliert Finck an die Bundesländer: "Von allein wird sich nichts ändern. Man muss schon etwas dafür tun." Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz verfügten beispielsweise über keinen Nationalpark. Anzustreben seien Gebiete von einer Fläche, die auch großen Pflanzenfressern wie dem Elch und großen Aasfressern wie dem Geier genug Raum zum Ansiedeln und Überleben bieten. Finck denkt da an mindestens 1000 Hektar. "Es macht nur Sinn, wenn man ein komplettes Öko-System schützen kann", sagt der Biologe. Die 524 Hektar Wildnis im Siebengebirge betrachtet er zumindest als Schritt in die richtige Richtung. Bevor dort die Wildnis wieder wuchert, soll der Wald in seinen ursprünglichen Zustand versetzt werden. Das heißt: Nadelbäume müssen Laubbäumen weichen. Fränkischer Steigerwald und Vessertal Hoffnung setzen Finck und seine Kollegen auch in zwei Nationalparkinitiativen im fränkischen Steigerwald und im thüringischen Vessertal. Beide Regionen sind Biosphärenreservate und beliebte Ausflugsziele. In Thüringen ist der Nationalpark Vessertal sogar im Koalitonsvertrag von CDU und SPD festgeschrieben. Doch gleichzeitig existieren Pläne, den ans Vessertal grenzenden Rennsteig stärker touristisch zu nutzen. Wandern und unberührte Natur schließen sich nicht aus, betont Finck. Gaststätten und Hotels aber haben in einem Nationalpark nichts zu suchen. In eine Wildnis passen sie schon gar nicht. Dafür haben aber die Menschen aus der Region zunächst wenig Verständnis, hängen an der Nutzung der Natur schließlich auch Arbeitsplätze. "Auch ein Naturpark lässt sich wirtschaftlich nutzen", argumentiert Finck dagegen. Thüringen jedenfalls steht eine langwierige Debatte bevor. Anderswo steckt man schon mittendrin. Rund um den fränkischen Steigerwald haben sich zwei Bürgerinitiativen für und gegen den Nationalparkgedanken gegründet. Mittlerweile haben die Befürworter die besseren Karten. "Natura 2000"-Gebiete als Wildnis geeignet Doch es muss auch nicht immer gleich ein Nationalpark sein. Alle Schutzgebiete, die mittlerweile das Siegel "Natura 2000" tragen, kommen Finck zufolge als Wildnisgebiete in Frage. "Natura 2000" ist ein EU-weiter Verbund von Biotopen. Die Aufnahmebedingungen sind vergleichbar mit denen nationaler Flora-Fauna-Habitate und von Vogelschutzgebieten. Nicht selten kann eine Region alle drei Prädikate auf sich vereinen. Von den "Natura 2000"-Gebieten in Deutschland kämen laut BfN insgesamt 2,2 Millionen Hektar Land als Wildnis in Frage. Außerdem empfiehlt Finck, weitere Wildnisgebiete auszukundschaften, etwa ausgediente Truppenübungsplätze und ehemalige Halden. "Die Ungestörtheit ist auch schon ein Wert", sagt er und verweist auf die Rückkehr der Wölfe im brandenburgischen Naturpark Nuthe-Nieplitz. Neben dem Schutz für Flora und Fauna sieht der Biologe auch Vorteile für den Menschen: Wissenschaftler könnten an einer unberührten Natur viel besser erforschen, wie sich Pflanzen und Tiere dem Klimawandel anpasssen. *Wildnis ist nach der Definition der International Union for Conservation of Nature (IUCN) ein "ausgedehntes ursprüngliches oder leicht verändertes Gebiet, das seinen ursprünglichen Charakter bewahrt hat, eine weitgehend ungestörte Lebensraumdynamik und biologische Viefalt (inkl. der Spitzenprädatoren) aufweist, in dem keine ständigen Siedlungen sowie sonstige Infrastrukturen mit gravierendem Einfluss existieren und dessen Schutz und Management dazu dient, seinen ursprünglichen Charakter zu erhalten". |