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Im Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 1
REISE | REISETAGBUCH (21.05.2012)
Von Frank Fehlberg
Im Jahr der Fußball-Europameisterschaft werden sich wohl mehr Deutsche als sonst nach Polen trauen. Sie finden ein stolzes Land vor, dessen Reize mit Leichtigkeit die bevorstehende Großveranstaltung überstrahlen. Eindrücke einer Frühjahrsreise in den Norden unseres östlichen Nachbarlandes.

Der Fußball ist in Polen, wie in anderen Ländern Europas auch, von großer Bedeutung für die nationale Identität. Die Europameisterschaft, die das Land zusammen mit der Ukraine in diesem Jahr ausrichtet, wollen die Polen vor allem nutzen, um ihr Land als attraktives Reiseziel weiter voranzubringen. Bei aufgeschlossenen Zeitgenossen stellt das kein unlösbares Problem dar. Neben der Hauptstadt Warschau haben auch andere Austragungsorte wie Breslau (Wrocław) und Danzig (Gdańsk) eine Menge Sehenswertes nicht nur für Fußballfans zu bieten. Den Sporttouristen ist wärmstens zu empfehlen, abseits der Ballbespaßung die kulinarischen, kulturellen und landschaftlichen Schätze nicht zu übersehen. Vor Beginn des großen Trubels bereiste der Autor die alte Hansestadt Danzig, die westlich des Deltas eines weiteren polnischen Identifikationssymbols gelegen ist: der Weichsel.

Backsteinrotes Deutschordensland

Die wechselvolle Geschichte einer der schönsten Städte Polens ist an vielen Orten in der Stadt und in ihrer Umgebung gegenwärtig. Nach ihrer Existenz als Handelsstützpunkt im Reich der heidnischen Prußen – auf dieses baltische Volk geht der geografische Name Preußen zurück – war die Stadt von vielen unterschiedlichen Völkern geprägt. Deutsche, Kaschuben, Polen, Niederländer – sie alle hinterließen ihre Spuren. Der Deutsche Orden, während der Kreuzzüge auf viele Stützpunkte im Mittelmeerraum verteilt und in Ungarn an der Niederlassung in Siebenbürgen gehindert, erhielt 1226 vom polnischen Herzog Konrad I. von Masowien ein Lehen an der Weichsel. Seine Aufgabe, die Bekehrung und Unterwerfung der Prußen, ließ der Orden schnell hinter sich: Er sollte auf Jahrhunderte das Gebiet an der Ostsee prägen. Die Vormacht der Kreuzritter war der selbstbewussten Kaufmannschaft in Danzig bald ein Dorn im Auge. Die Konflikte um wirtschaftliche und politische Macht an der baltischen Ostsee zogen sich bis in das 20. Jahrhundert.

Perle Weichselpommerns

Mit dem Beginn des deutschen Angriffs auf Polen am 1. September 1939 ging Danzig auf unrühmliche Weise in die Weltgeschichte ein. Als Freie Stadt seit 1920 unter dem Schutz des Völkerbundes wurde es zum Schauplatz der ersten Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges. Die Stadt, über die längste Zeit ihres Bestehens von einer deutschen Bevölkerungsmehrheit bewohnt, wurde schließlich 1945 von Polen annektiert. Die Zerstörung der Altstadt durch alliierte Bomberangriffe und die verzweifelten Verteidigungsmaßnahmen hat jedoch nicht – wie in vielen kleineren Städten etwa im nahen Pommern – zu sowjetsozialistischen Nachkriegsarchitektur-Blüten geführt. 1948 beschlossen die polnischen Stadtherren, mit der alten Rechtsstadt die Substanz des historischen Stadtbildes wiederherzustellen. Dank dieser anerkennenswerten Entscheidung kann Danzig heute dem internationalen Besucherpublikum ein imponierendes Stadtbild bieten.



Westerplatte – ein Schicksalsort

Ein Besuch der Westerplatte – im September 1939 Schauplatz des „ersten Schusses“ durch das deutsche Kriegsschiff „Schleswig-Holstein“ – ist am besten mit einer Hafenrundfahrt zu verbinden. Hier bekommt der Besucher während der Erschließung des weitverzweigten Hafengebietes augenzwinkernd mitgeteilt, welcher Umstand die Danziger Kaufleute eigentlich so reich gemacht hat: ihre Position als Zwischenhändler. Strategisch vorteilhaft im Hinterland und an der Weichselmündung in die Ostsee gelegen, kontrollierten die Danziger Patrizier nach Bezwingung des Deutschen Ordens die Handelsströme – und erlangten als Flaschenhals des Handels über Fluss und Meer sagenhaften Reichtum und Einfluss. Die Westerplatte war einst ein Symbol des Bürgerstolzes der Stadt. Ihre Glanzzeit reichte bis 1914, als sie als Ausflugs- und Kurort der Danziger Bürgerschaft an Bedeutung verlor.

Die Westerplatte ist – ähnlich wie das polnische Postamt der Stadt – das Symbol des polnischen Widerstands gegen die deutschen Angreifer. Im ganzen Land sind Straßen nach ihr benannt. Aber sie ist auch Symbol des Verrats durch Frankreich, an den eine Freiluftausstellung vor Ort vorwurfsvoll erinnert. Zur Verdeutlichung des französischen „Egoismus“ und seiner „Kurzsichtigkeit“ wird auf den Zeitungsartikel „Faut-il mourir pour Dantzig“ („Muss man für Danzig sterben?“) des Journalisten Marcel Déat verwiesen, der die kriegsmüde Stimmung in Frankeich plakativ schon im Frühjahr 1939 aufgriff. Die gemeinsame Sache, die Deutsche und Russen 1939 in der Tradition der Polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts machten, wird ohne Scheu vor der Gleichsetzung der totalitären Aggressoren vorgeführt.



Überhaupt verändern sich für den aufmerksamen und interessierten Reisenden in Polen die Perspektiven auf die Geschichte. So kommt er an dem nationalen Übervater Józef Piłsudski nicht vorbei, der trotz zeitweiser diktatorischer Herrschaft in der Zeit zwischen den Weltkriegen als Nationalheld verehrt wird. Die größte Leistung des Generals, der 1892 selbst die Polnische Sozialistische Partei (Polska Partia Socjalistyczna) mitgegründet hatte: Er beschützte im Polnisch-Sowjetischen Krieg 1920 mit dem „Wunder an der Weichsel“ Europa vor dem Bolschewismus. Über die „Leiche Polens“ wollte die Rote Armee unter Leo Trotzki das revolutionäre Deutschland erreichen. Die „Weltrevolution“ war in greifbarer Nähe, die Bedrohung Europas durch die auf breiter Front – die Ukraine und das Baltikum standen ebenfalls auf dem „Befreiungsplan“ der Bolschewisten – nach Westen vorrückenden russischen Revolutionstruppen konnten 1920 allein die Polen bannen. Im Zuge des „Großen Vaterländischen Krieges“ gegen die Nationalsozialisten „befreiten“ die Sowjets unter Josef Stalin 1945 schließlich auch Danzig.

„Heldenstadt“ Danzig

Doch die Ostseemetropole hat in der neueren Geschichte nicht nur dunkle Seiten zu bieten. Hier begann 1970 mit den Unruhen in der Leninwerft der Aufstieg einer breiten Widerstandsbewegung gegen die wirtschaftlichen und politischen Zustände innerhalb des Ostblockstaates Polen. 1980 gab sich die gewerkschaftliche Bewegung unter ihrem charismatischen Führer Lech Wałęsa den Namen „Solidarność“ („Solidarität“) und zog für 16 kurze Monate die größten Hoffnungen des Landes auf sich. Von Danzig war, ähnlich wie 1989 in der DDR im Falle der „Heldenstadt“ Leipzig, der landesweite Anstoß zur Überwindung des von Moskau über ganz Osteuropa gestülpten Sowjetsozialismus samt seiner nationalen Repräsentanten ausgegangen. Doch Ministerpräsident Wojciech Jaruzelski, der seine Deportation durch die Sowjets 1939 in den russischen Osten in seiner Rolle als linientreuer Parteikader anscheinend vergessen hatte, verhängte nach 16 Monaten Danziger, ja polnischer Euphorie den Kriegszustand. 1988 kehrten Wałęsa und seine Getreuen zurück und inspirierten mit den ersten „Runden Tischen“ im Frühjahr 1989 die Widerstandswelle in ganz Osteuropa.

Im zweiten Teil des Reiseberichts wird der Autor einen Blick in die Landschaften und Kulturregionen in der Nachbarschaft Danzigs werfen.
   






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