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Soziale Demokratie geht auch ohne SPD
POLITIK | LINKE BEWEGUNG (11.01.2018)
Von Frank Fehlberg
Soziale Demokratie ist keiner Partei vorbehalten. Sie ist das Projekt für eine "linke Sammelbewegung". Nur sind Linke nicht dafür bekannt, einfach ihre Überzeugungen für einen Burgfrieden abzulegen.

Geogast/Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Eigentlich sollte man Sozialdemokraten nicht um Sozialdemokratie anbetteln müssen. Irgendwann muss man sie sich nehmen. (c) Geogast/Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)


Anfang 2017 lag die SPD in Wahlumfragen zeitweise gleichauf mit CDU/CSU. Die Ursache lag nicht in Kanzlerkandidat Martin Schulz. Auch nicht in der inhaltlichen Attraktivität seiner Partei. Die Ursache lag außerhalb der SPD und hatte doch mit ihr zu tun. - Eigentlich sollte man Sozialdemokraten nicht um Sozialdemokratie anbetteln müssen. Irgendwann muss man sie sich nehmen.

Das Stimmungshoch entsprang der Hoffnung, der Politik eine fundamental andere Richtung geben zu können. Es war getragen von Menschen, die in Deutschland, Europa, ja in der Welt zurzeit mehr Zersetzung als Versöhnung am Werk sehen. Von Menschen, die dem immer gleichen Geschwätz vom sozialen Segen von mehr "Eigenverantwortung", "Wachstum" und "Wettbewerb" nicht mehr folgen. Von Menschen, die sich nicht von den neuesten und strahlenden Errungenschaften "der Wirtschaft" über ihre eigene Lebenslage und globale Kollateralschäden täuschen lassen.

Heimliche Sozialdemokraten

Projektion ist das Kerngeschäft von Wahlkämpfen: Dem Schein zum Sein verhelfen. Deshalb sind bei Niederlagen schnell "Kommunikationsprobleme mit dem Wähler" als Ursache zur Hand. Die Wunschvorstellung von einer geläuterten und dadurch erstarkten SPD als Motor einer sozialen bis grünen Alternative in Deutschland und Europa, die den "Schulz-Hype" ermöglichte, konnten die SPD-Wahlkämpfer weder verstehen noch verwerten. Denn dieser Wunsch war kein Kampagnenprodukt und unterstand damit nicht ihrer Kontrolle: Er kam von einem offenbar schlagkräftigen Wähleranteil, der sich allein von seiner eigenen Illusion der Sozialdemokratie begeistern ließ. Der Rausch hielt nicht lange an.

Die SPD versucht, der Staats- und Gesellschaftsidee der Sozialen Demokratie noch immer einen exklusiven parteipolitischen Ort zu geben - ohne Erfolg. Man muss nicht sofort eine neue Partei gründen, wie Oskar Lafontaine fordert. Aber man sollte die "Erneuerung der SPD", die Wiederaufrichtung ihrer historischen Glaubwürdigkeit, wenn man so will, nicht abwarten. Auch nicht die zufällige Bildung eines rot-grünen, rot-roten oder rot-rot-grünen Lagers auf Bundesebene, wie es Ralf Stegner und Simone Peters nahelegen. Die neuerlich diskutierte "linke Sammlungsbewegung" ist so schnell nicht von der Hand zu weisen. Sie sollte sich allerdings unabhängig vom Führungspersonal etablierter Parteien entwickeln.

Alternativlosigkeit! Hat Schröder erfunden

Man kann Angela Merkel viel vorwerfen, aber nicht, sie sei die Entdeckerin der "Alternativlosigkeit". Das hatte Vorgänger Gerhard Schröder schon erledigt. Um die "Rahmenbedingungen für mehr Wachstum" vorzustellen, hielt er 2003 die berühmte Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede: "Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen." Eine der bis heute blühenden sozialdemokratischen Metastasen des von Schröder eingeschleppten Vulgärliberalismus trat erstmals 2007 bei Franz Müntefering auf: "Links ist das, was Arbeit schafft." Das Wohl des Nächsten und des Einzelnen interessierte hier nicht. Die Folgen muss in der Gegenwart jeder für sich bewältigen, vom Paketboten bis zum Soloselbstständigen.

Mit der AfD wurde eine konservative bis rechtsradikale, in jedem Falle aber ausgerechnet kapitalliberale Partei von vielen Wählern mit einer Alternative verwechselt. Der Nationalitätsgedanke und seine bisweilen völkische Zuspitzung sollen ihr die politisch wichtige Identifikationsebene gemeinschaftlicher Interessen sichern. In der Wirtschaftspolitik allerdings sind laut Wahlprogramm die "Eigenverantwortung der Wirtschaftssubjekte", die "Garantie des Privateigentums" und "der Marktpreis als Steuerungsmechanismus für wirtschaftliche Entscheidungen" die "grundlegenden Elemente". Damit kann sich die "Alternative" in die Schlange der Perspektivlosen einreihen.

Ein wesentlicher Grund für die anfängliche Euphorie potentieller SPD-Wähler war die Erwartung, die Sozen würden mit Martin Schulz zur Sozialen Demokratie zurückfinden und sich modernisieren. Die Hoffnung stirbt eben zuletzt. Der neue SPD-General- und Digitalsekretär Lars Klingbeil im Nachgang dazu völlig ahnungslos: "Die Agenda 2010 stammt aus dem Jahr 2003. Da gab es noch nicht einmal StudiVZ. […] Wir kommen wieder von den 20 Prozent weg, wenn wir spannend werden und Neugier wecken. Wenn wir uns immer nur mit der Vergangenheit beschäftigen, bleiben wir bei 20 Prozent." Der Rest des vergangenen Wahljahres ist die Geschichte einer oberflächlichen Wahlkampagne, die zeitweise wie eine selbstironische Verabschiedung in die Bedeutungslosigkeit anmutete. Hieß der Wahlkampf-Slogan nochmal schwach "Zeit für mehr Gerechtigkeit" oder noch schwächer "Mehr Zeit für Gerechtigkeit"?

Soziale Demokratie statt Sozialdemokratie

Der SPD wird selbst von Wählern immer noch die Alleinvertretung der Idee von einer Sozialen Demokratie zugeschrieben. In der Gegenwart ist das falsch. Partei und Idee existieren getrennt voneinander. Die Idee ist längst im Grundgesetz angekommen. Deutschland "ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" (Art. 20). Freilich weist die Rechtswirklichkeit größere Schwankungen auf, wobei ihre Ausprägung bis in die 1970er-Jahre gemeinhin als Hochzeit angesehen wird. Gerade diese mittlerweile altehrwürdige Vorstellung der Demokratie als eines gemeinsamen Miteinanders statt eines wettbewerblichen Nebeneinanders war es, die den positiven Schulz-Affekt in den Umfragen bestimmte. Das Gefühl, einem "eigentlich" vorhandenen Grundkonsens wieder Wirkung verleihen zu können.

Wer sich heute für Soziale Demokratie oder Demokratischen Sozialismus einsetzt, braucht sich nicht den Vorwurf gefallen zu lassen, er habe aus den marxistisch-leninistischen Parteisozialismen nichts gelernt. "Wenn Menschen den Abstieg fürchten, ist das Gift für den sozialen Zusammenhalt", kann man da etwa aus dem Wahlprogramm der Grünen antworten. Klassendiskriminierung und "Wirtschaftsflucht" waren genau in diesem Wirkzusammenhang beschleunigende Elemente des Untergangs der DDR. Abgesehen von einem ökologischen Raubbau, der jegliche Zukunftsorientierung schon rein physisch vermissen ließ. Wer einfach zu den "guten alten Zeiten" auf der anderen Seite der Blockgrenze zurück will, sollte nachdenken, wie sozial sein Demokratie- und wie demokratisch sein Sozialismusverständnis ist.

Die Demokratie ist die abstrakte Herrschaft (der Mehrheit) eines Staatsvolkes. Wie Mehrheit und Staatsvolk definiert werden, kann historisch-konkret sehr unterschiedlich ausfallen. Die Demokratie kann als Monarchie oder Republik, als Gemeinschaft oder Konkurrenz der Freien oder als Sklavenhaltergesellschaft daherkommen. Sie kann Mischformen wie plebiszitäre, klassen- und besitzdefinierte, hochgradig diskriminierende oder cäsaristische Herrschaften bekleiden, wenn nicht bemänteln. Derlei Demokraturen sind in der Welt heute wieder stärker zu beobachten, insbesondere in der westlichen.

Wählen gehen reicht nicht

Auch wenn einem der Appell an alle "aufrechten Demokraten" leicht über die Lippen kommt: Es gibt keine abstrakten "demokratischen Werte", die den Erhalt "der Demokratie" allein zu gewährleisten im Stande sind. Die Demokratie bleibt eine Definition mit Toleranzen, erschöpft sich aber ebenso wenig in ihren geschichtlichen Erscheinungsbildern. Mit einigem Recht könnte man vielleicht den aktiven Wahlgang als demokratisches Verhalten goutieren. Aber hier gilt: Das Wahlergebnis ist nicht als "Wille des Wählers" zu personifizieren, es gibt lediglich Auskunft über die Zusammensetzung der gültigen Wahlstimmen.

Das Wesen einer historisch greifbaren und damit konkreten Demokratie liegt nicht nur in der Rechtsordnung des Staates begründet, sondern wird durch die gesellschaftliche Praxis mit Leben erfüllt. Jedes Staatsvolk darf und muss also seine Demokratie fortwährend gestalten - mit den Prinzipien des Wettbewerbs und der Eigenverantwortung oder etwa mit den Maximen der Solidarität und Nachhaltigkeit. Demokratisch zu sein ist jedenfalls nicht genug. Das ist Emmanuel Macron auch.

Das Wahlergebnis einer Bundestagswahl könnte anders interpretiert werden, wenn man der Mehrheit der gültigen Wahlstimmen eine ähnliche Intension unterstellte - man nennt diese schwer greifbare Größe "Wechselstimmung". Moderne Soziale Demokratie taugt zu einem Gesellschaftsprojekt, das diese Stimmung herstellen kann. Das muss nicht bedeuteten, dass es letztlich eine neue Partei braucht. Anfangen könnte es mit einer überparteilichen Debatte, die von all jenen getragen wird, die ein solches Projekt unterstützenswert finden.

Den Kapitalismus und seine Folgen gibt es frei Haus. Die Soziale Demokratie und ihre Möglichkeiten müssen gewollt werden.
   




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