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Wo Leibniz und Wagner die Schulbank drückten
KULTUR | 500 JAHRE NIKOLAISCHULE (30.08.2012)
Von Michael Billig
Vor 500 Jahren wurde die erste Bürgerschule Leipzigs, eine der ersten in deutschen Landen eingeweiht und auf den Namen Nikolai getauft. Aus ihr gingen so große Persönlichkeiten wie der Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz hervor.

Mehr als 100 Jahre mussten die Leipziger Bürger auf ihre erste Schule warten. Eine namhafte Klosterschule soll an der Verzögerung nicht ganz unschuldig gewesen sein: Die Thomasschule mit ihrem heute weltweit berühmten Knabenchor hatte keine zweite höhere Lehranstalt neben sich dulden wollen. Verhindern konnte sie die Nikolaischule nicht.

M. Billig

Die Alte Nikolaischule in Leipzig - wo WIlhelm Leibniz glänzte und Richard Wagner schwänzte. (c) M. Billig

Das Schulwesen lag bis ins 16. Jahrhundert zumeist in Händen der Kirche. In Leipzig dominierte die im Jahr 1212 gegründete Thomasschule. Deren Stifter waren die Geistlichen des benachbarten Klosters, die im Unterricht ihren gottesfürchtigen Nachwuchs heranziehen wollten. Doch das war auch schon im Mittelalter gar nicht mehr jedermanns Sache. "Die Bedürfnisse der Stadtbürger wurden in der Schule nur ungenügend berücksichtigt", sagen die Leipziger Historiker Florian Friedrich und Frank Fehlberg. "Die Bürger wollten, dass ihre Kinder für höhere Aufgaben in Handel und in der Stadtverwaltung vorbereitet werden. Sie wollten mehr Einfluss auf Unterrichtsinhalte und die Besetzung der Lehrerstellen." In den Hansestädten Lübeck (1262) und Hamburg (1281) habe es die allerersten Schulen gegeben, die dem entsprachen, was sich die Leipziger auch für ihre Kinder wünschten.

Urkunde vom Papst

Die Stadtoberen konnten sogar den Papst von ihrem Vorhaben überzeugen, eine eigene Schule zu gründen. Eine Urkunde aus dem Jahr 1395 bezeugt seine Zustimmung. Doch Seuchen und Kriege durchkreuzten zunächst den Plan. Erst wütete die Pest in Leipzig. Später rafften der Sächsische Bruderkrieg und Stadtbrände große Teile der Bevölkerung dahin. Außerdem, so erzählt Historiker Fehlberg weiter, habe die alteingesessene Thomasschule lange Zeit eine zweite Schule für höhere Bildung bekämpft. "Die Thomaner haben ihre Pfründe sichern wollen", sagt Fehlberg über die Gründe. Für das liturgische Singen, das besonders einträglich gewesen sei, beanspruchten sie gar das Monopol. Bedingung für eine neue Schule sei gewesen, dass sie sich aus diesem Feld völlig heraushält. "Die Nikolaischule musste vertraglich zusichern, dass einzig die Thomaner in den Kirchen Leipzigs singen dürfen", sagen Friedrich und Fehlberg. Beide Wissenschaftler haben sich zwölf Monate in einem Ausstellungsprojekt des Leipziger Schulmuseums mit der Geschichte der Nikolaischule beschäftigt.
Mit dem Vertrag übers Singen war der Grundstein für die Nikolaischule gelegt und für eine über Jahrhunderte andauernde Rivalität zwischen Thomanern und Nikolaitanern. Die Konkurrenz spitzte sich immer mal wieder in kleinen Feindseligkeiten zu. So sollen die Thomaner die Nikolaitaner am 12. März des Jahres 1675 beim illegalen Singen erwischt haben. Eine Provokation sondergleichen, die eine wilde Prügelei nach sich zog.

Prominente Schüler

Das alte Schulgebäude, vor dem sich der handfeste Streit abgespielt haben soll, existiert immer noch. Zu DDR-Zeiten fast völlig zerfallen, wurde es nach der Wiedervereinigung mit finanzieller Hilfe der Stadt Frankfurt am Main saniert. Heute beherbergt es eine Gaststätte, das Antikenmuseum der hiesigen Universität, eine Aula für Veranstaltungen und die Kulturstiftung Leipzig. Im Kellergeschoss gastiert aktuell die Ausstellung über 500 Jahre Bürgerschule.
Dabei braucht sich die Nikolaitana gar nicht zu verstecken. Angesehene Politiker, Wissenschaftler, Künstler und Sportler haben hier die Schulbank gedrückt. Leipziger Bürgermeister und Uni-Rektoren entstammten der Bürgerschule. Kinder großer Verlegerfamilien wie Brockhaus, Reclam und Hinrichsen besuchten hier den Unterricht. Der Frühaufklärer Christian Thomasius paukte im 16. Jahrhundert an der Nikolaischule. Der Schriftsteller Johann Gottfried Seume im 18. Jahrhundert, Friedrich Naumann, Namensgeber der FDP-nahen Naumann-Stiftung, und der Sozialist Karl Liebknecht im 19. Jahrhundert. Nationalschwimmer und prominenter DDR-Flüchtling Axel Mitbauer im 20. Jahrhundert. Der größte Stolz der Schule aber war und ist der Universalgelehrte und Sohn der Stadt Gottfried Wilhelm Leibniz. Er lernte von 1655 bis 1661 im alten Schulgebäude. Doch der einzige nach einem Ex-Schüler benannte Raum im Haus - die Aula - trägt merkwürdigerweise den Namen eines anderen: Richard Wagner. Der Komponist kam im Alter von 14 Jahren an die Nikolaischule und war nicht gerade ein Musterschüler. Er fehlte häufig im Unterricht und wechselte nach zwei Jahren zur ungeliebten Konkurrenz, um - wie in der Matrikel der Schule vermerkt - Musikus zu werden.
Im Jahr der großen Jubiläen sieht es nun so aus, als sei die Versöhnung beider Schulen geglückt. Die Thomaner sangen der Nikolaitana zu ihrem 500. Geburtstag ein Ständchen und erteilten ihr nach Jahrhunderten offiziell die Singerlaubnis.

Die Ausstellung "Bürgerstolz und Bildung - 500 Jahre Nikolaischule Leipzig" ist noch bis zum 30. September in der Alten Nikolaischule in Leipzig zu sehen. Öffnungszeiten: Di. bis Do., Sa. und So. jeweils 12 bis 17 Uhr. Demnächst erscheint im Sax Verlag der Begleitband.

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