Rive Gauche vs. Rive Droite
REISE | PARISER STADTGESCHICHTE (01.09.2010)
Von Erik Schuchort | |
Eine Stadt, zwei Flussufer, ein Klischee. Rechts das Geld und die Macht. Links die Kunst und der Geist. Was ist an diesem Klischee dran? Eine Spurensuche. Bootstouren auf der Seine sind bei Touristen sehr beliebt. Sie bekommen oft zu hören, der Fluss teile Stadt und Einwohner in verschiedene Lager. (c) tokamuwi / pixelio.de Das Rive Gauche ist das Reich der Wissenschaft und der Kunst: der Universität Sorbonne, der fünf französischen Akademien, der Beaux-Arts, der Druckereien, Verlage, Buchhandlungen und Galerien. Ob im kollektiven Gedächtnis seiner Einwohner und Ortskundigen, oder in Reiseführern und Presseberichten, stets ist die Rede von diesem Gegensatz. Welche Entwicklungen im Städtebau haben dazu beigetragen, dass Paris ein solches Klischee anhaftet? Hat es bis heute Geltung? Ein Blick in die Stadtgeschichte soll Aufschluss geben. Anfänge vor Christus 54 v. Chr. beginnt die schriftliche und archäologisch fassbare Geschichte von Paris. In jenem Jahr vertreiben Cäsars Truppen im Rahmen ihres gallischen Eroberungsfeldzuges die Keltenstämme aus dem Pariser Becken. Auf einer Seine-Insel, der heutigen Île de la Cité, die die Kathedrale Notre-Dame beherbergt, gründen die Römer ihren Herrschaftssitz. Ihre Wohnsiedlungen errichten die Besatzer auf dem Rive Gauche, weil das Rive Droite von Sümpfen durchfurcht ist. Während auf dem Rive Gauche Foren, Thermen, Arenen und Wohnhäuser entstehen, bleibt das Rive Droite – abgesehen von zwei Tempelbauten zu Ehren von Mars und Merkur – unbebaut. Erst unter den Merowingern, um 600 n. Chr., entsumpfen Mönche das Rive Droite und machen es zur landwirtschaftlichen Nutzung urbar. Siedlungen entstehen nur vereinzelt, währenddessen auf dem Rive Gauche zu diesem Zeitpunkt bereits eine städtische Atmosphäre herrscht. Im Hochmittelalter kippt das Machtverhältnis der beiden Seine-Ufer. Als der Seehandel um 1100 mit den reichen flandrischen Städten floriert, verlassen Kaufleute und Handwerker in Scharen die Île de la Cité und siedeln auf das Rive Droite über. Dort errichten sie Häuser, in denen sie arbeiten und schlafen. Wirtschaftliche Gründe sind für diese Entwicklung maßgebend: Am Rive Droite können Handelsschiffe aus Flandern besser anlegen, da das Küstengebiet dort flacher ist. Infolgedessen bilden sich die beiden wichtigsten Umschlagsplätze für den See- und Landhandel auf dem Rive Droite heraus. Reichtum und Wohlstand mehren sich. Die Bevölkerungszahl steigt rapide an. Imagebildung im Hochmittelalter Zur gleichen Zeit lassen sich ehemalige Lehrer und Kathedralschüler der Domschule Notre-Dame auf dem Rive Gauche nieder. Die vielen neu errichteten Kollegien ebnen der Sorbonne als erster Universität Frankreichs und zweitältester Europas 1257 den Weg. Im ausgehenden Hochmittelalter hat sich somit eine eigenständige Charakteristik auf beiden Seine-Ufern herausgebildet. Hier liegt der Ursprung des eingangs erwähnten Klischees! Während auf dem Rive Droite ein ausgedehntes Bürgerviertel im Marais (4. Arr.) entsteht, erwächst auf dem Rive Gauche ein Ort der Akademiker und Intellektuellen – das Quartier Latin. Unter den Bourbonen verfestigt sich das entstandene Image der beiden Flussufer. Auf dem Rive Droite entstehen im 17. und 18. Jahrhundert schnurgerade Straßenzüge, öffentliche Plätze und Triumphbauten. Die königlich-kaiserlichen Maßnahmen dienen der Einschüchterung des aufstrebenden Bürgertums. Der Ausbau des Louvre zum Königssitz fördert die Ansiedlung des französischen Adels und die Errichtung von etwa 40 prunkvollen Stadtpalais‘, sogenannter Hôtels Particuliers. Auf dem Rive Gauche erwachsen bis 1450 ca. 60 neue Kollegien, aus denen wichtige Pariser Bildungseinrichtungen hervorgehen: das Elite-Gymnasium Louis-Le-Grand, die École Polytechnique und das Collège de France. Desweiteren werden hochrangige Schulen wie die École des Beaux-Arts und die École de Médecine gegründet. Dadurch wird die Charakteristik der beiden Ufer noch verstärkt. Weder infolge der Revolution noch unter Napoleon I. kommt es zum sozialen Umbau der Stadt. Die Imagebildung beider Seine-Ufer erlebt bis Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Vollendung. Radikaler Wandel unter Napoleon III. In den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts erlebt Paris seine bis heute radikalste soziale und raumstrukturelle Veränderung – ein Imagewandel ist die Konsequenz. Im Auftrag Napoleons III. soll Eugène Haussmann, Präfekt des Seine-Départements, der Stadt den Weg in die Moderne ebnen. Die Umgestaltung erfolgt schrittweise, der Dringlichkeit entsprechend. Zuerst wird das alte Stadtzentrum freigelegt. Haussmann lässt breite Schneisen anlegen, um den Innenstadtraum „durchzulüften“. Das mittelalterliche Häusergewirr wird durch blitzblanke Bürgerhäuser aus weißem Kalkstein ersetzt. Danach erfolgt der Ausbau des Straßennetzes zwischen den Quartiers. Am feingliedrigsten wird dabei die Infrastruktur im Pariser Westen – auf dem Rive Droite – geplant: In unmittelbarer Nähe des Triumphbogens entstehen neue bürgerliche Wohnviertel und große Boulevards mit teuren Modeboutiquen, Warenhäusern und Passagen. Als krönender Mittelpunkt wird dort die Opéra Garnier errichtet, als „neues Herz von Paris“, umwebt von einem filigranen Straßennetz. Anschließend werden die „Störzonen“ (Arbeiter- und Studenten-Viertel im Nord- und Süd-Osten) gesäubert und durch breite Straßenzüge eingekeilt. Diese Maßnahme erleichtert den kaiserlichen Ordnungskräften das Eingreifen bei aufkeimenden Volkserhebungen. Zuletzt plant Haussmann, die Industrie aus dem Stadtzentrum auszulagern und in die Randgebiete von Paris zu verbannen. Bürgerlicher Westen, Arbeiterklasse im Osten Die Umgestaltung Haussmanns bringt zwei einschneidende Veränderungen mit sich: Erstens, die Verlagerung des Zentrums in den bürgerlichen Westen. Zweitens, die soziale Entmischung der Bevölkerung. Durch den Abriss und Umbau im alten Stadtkern ist die Unterschicht gezwungen, billigeren Wohnraum aufzusuchen. Es entsteht ein Ost-West-Gefälle, das sich im Laufe der Industrialisierung weiter verschärft. Während die Angehörigen der Arbeiterklasse in den Osten der Stadt siedeln, zieht es die Wohlhabenden in den vergleichsweise bevölkerungsarmen Westen. Dort entsteht das Bild des „sündigen Paris“ mit den neuen Lebensqualitäten: le plaisir, la femme et l’argent. Dieser Imagewandel setzt sich fort. Nach dem Zweiten Weltkrieg treiben die Staatspräsidenten während der „trente glorieuse“ die Modernisierung der Stadt voran – erst wirtschaftlich, dann kulturell. In erster Linie soll sich die Baupolitik rentieren. Sie zielt darauf ab, aus Paris eine Metropole der internationalen Finanzwelt zu machen. Deshalb entstehen entlang der historischen Achse wichtige Dienstleistungssektoren auf beiden Seine-Ufern. Infolge dieses wirtschaftlichen Aufschwungs werden sowohl auf dem Rive Droite als auch auf dem Rive Gauche zahlreiche Kulturzentren errichtet. Da der Stadtinnenraum an Attraktivität gewinnen soll, entstehen diese Großprojekte entlang der beiden Seine-Ufer – und nicht etwa im bürgerlichen Westen. Es kommt zum kulturellen Ausgleich zwischen dem Rive Gauche und dem Rive Droite. „Ein“ Stadtzentrum ist künftig nicht mehr auszumachen. Stattdessen splittert sich die Innenstadt in viele kleine Zentren auf. Selbst die altehrwürdige Sorbonne im Quartier Latin wird infolge der Mai-Unruhen von 1968 zergliedert. Zwölf eigenständige Universitäten entstehen, größtenteils in den städtischen Randgebieten. Das Quartier Latin verliert sein studentisches Flair. Die historische Zweiteilung Rive Gauche, Rive Droite, hat sich damit endgültig aufgelöst. Und doch wird weiter von diesem Klischee die Rede sein, weil es längst zu einem Mythos angewachsen ist. |