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Rote Fahnen auf dem Augustusplatz
POLITIK | REPORTAGE (08.05.2011)
Von Torsten Wieland
Wie aus der Zeit gefallen - so wirken Gewerkschafter und andere Nelkenträger am Tag der Arbeit. Stalin war auch da. Ein Ortsbesuch in Leipzig:

Andrea Mährle

Sie schwenken stolz die rote Fahne. Ihre Nachwuchsprobleme können die Gewerkschaften allerdings nicht länger bedecken. (c) Andrea Mährle

Leipzig Stadtzentrum, es ist 10 Uhr und ein strahlend blauer Himmel verbreitet gute Stimmung. Auf Leipzigs großer Einkaufspromenade, der Grimmaischen Straße, fahren zwei Polizeiautos spazieren. So scheint es. Dazwischen läuft ein Häuflein von etwa 20 Personen, mittleren Alters. Bei genauerem Hinsehen, lässt sich auf einer blau-weißen Fahne das Logo der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft erkennen. Die Zeitschrift „Rote Fahne“ wird von einer Frau angeboten. 1,50 Euro soll das dünne „Fähnchen“ kosten. Sonnende Kaffeebesucher schauen amüsiert oder genervt. Neben den Demonstranten schiebt ein junges Paar einen Kinderwagen vor sich her. Der junge Mann heißt Mirco, ist 25, trägt Jeans und T-Shirt. Daran steckt eine rote Nelke. Mirco ist auch Gewerkschafter und will mit seiner Familie zum eigentlichen Veranstaltungsort. Es ist der 1. Mai - Tag der Arbeit. Skandierend „Gebt das Geld nicht den Banken, gebt es den Kranken“ trifft das Grüppchen am Augustusplatz ein.

Geld für nichts

Auf Leipzigs größtem Platz hat der Deutsche Gewerkschafts Bund (DGB) zu einer offiziellen Veranstaltung unter dem Motto „Das ist das Mindeste – Faire Löhne, Gute Arbeit, Soziale Sicherheit“ gerufen. Nur die Hälfte des Augustusplatzes wird genutzt. Den meisten Raum nimmt eine Bühne ein. Die Musik ist bereits von weitem zu hören. Der Leadsänger einer Altherrenband kündigt ein Stück für alle Minijobber an: „Money for Nothing“. Am Bühnenrand flattert ein Banner mit der Aufschrift „Das ist das Mindeste“ fröhlich im Wind. Das Coverstück des Dire Straights Titels gelingt. Das Stück „geht nach vorn“, wie junge Leute sagen würden. Vor der Bühne stehen zwei Männer, ungefähr Mitte 50, und wippen in den Knien.

Das berühmte „Gewandhaus“, das seit über 200 Jahren für bürgerliche Musikkultur steht, begrenzt die Veranstaltung am Südende des Augustusplatzes. In den riesigen Fenstern spiegelt sich die Szenerie stark komprimiert. Der Eindruck von Spielzeug entsteht. Einige kleine Stände, ein größerer Stand der „Linken“, kleine Menschen. Blickt man auf die Realität wirkt das ganze etwas größer, auch die Menschen. Rund 800 sind dem Aufruf des DGB gefolgt. Es sind es vor allem ältere Menschen. Silbergrau ist an diesem Tag auf dem Augustplatz, die vorherrschende Haarfarbe. Eine weitere Farbe mischt sich in das Geschehen: das Rot der Fahnen an den Ständen.

Stalin ist auch da

Ganz am linken Rand der Veranstaltung, im Schatten des Gewandhauses, sitzen zwei ältere Herren an einem Tisch. Hier wehen gleich mehrere rote Fahnen. Stalin? Es ist keine Sinnestäuschung! Am Stand der KPD ist eine der Fahnen mit einer Gruppe von Berühmtheiten versehen worden: Marx, Engels, Lenin und Stalin. „Natürlich gehört Stalin mit in diese Reihe“, lächelt einer der Herren selbstbewusst, „schließlich ist er der größte Arbeiterführer überhaupt gewesen!“ Der Mann ist circa siebzig Jahre alt. Er hat weißes, gescheiteltes Haar, einen Vollbart und eine Brille. Er trägt einen Anzug aus den Siebzigern, der nicht so recht zum Rest seiner Erscheinung passen will. Er streicht sich über seinen Bart. „Diktator? Nein, nein“, schüttelt er immer noch freundlich den Kopf. „Das ist ein Konstrukt des Westens“, sagt er mit Nachdruck. „Ein kompromissloser Führer, das war Stalin! Er hat die sowjetische Arbeiterklasse zusammengehalten.“ Sagt’s, lehnt sich gelassen in seinem Stuhl zurück und wendet sich seinem Genossen zu.

Strebt man vom äußersten linken Rand kommend zur Mitte des Platzes, mehren sich die kleinen Stände der verschiedenen Gewerkschaften. Die Souvenirs und kleinen Geschenke sind hier der Publikumsmagnet. Mittendrin der Stand der Partei „Die Linke“. Farblich ist hier ebenfalls alles in Rot gehalten. Ein Bildnis Stalins ist nicht zu sehen. Hier will man den Anderen nicht nachstehen und verteilt fleißig Luftballons, Kugelschreiber und Traubenzucker im Corporate Design der Partei. Die Leute greifen gern zu. Mehr Andrang ist eigentlich nur noch am Bierstand. Auf dem Weg dorthin steht ein Auto. Ein Opel Vectra. Daran befestigt ist ein Bettlaken, dass mit seiner Aufschrift an Leipzigs Kriegs- und Naziopfer aufmerksam machen soll. Einige jüngere Besucher bleiben davor verwundert stehen. Kratzen sich am Kopf, reiben sich das Kinn. Eine Frau Mitte 30 und roter Nelke im Knopfloch murmelt ihrem Partner zu: „da steht doch gar nichts zum Mindestlohn.“
Gleich daneben ist eine Hüpfburg aufgebaut. Sie wirkt traurig, denn kein Kind hüpft darauf.

Streiten Gewerkschaften für junge Leute?

Noch nicht. Mirco, der junge Gewerkschafter schiebt seine kleine Tochter gerade durch den Eingang der Hüpfburg. „Ja, ich bin Gewerkschafter und in der SPD“, sagt er stolz. Auf die Frage warum in Leipzig überwiegend ältere Leute dem Ruf der Gewerkschaften gefolgt sind, zuckt er resigniert mit den Schultern. „Ich verstehe das nicht. Wir jungen Leute sind es doch, für deren Zukunft die Gewerkschaften streiten. Andererseits“, stockt er und zeigt mit einer schwenkenden Geste in das Geschehen, „Gewerkschaften sind nicht besonders sexy, oder?“ Das könnte unter anderem damit zu tun haben, dass der Anteil der unter 27-Jährigen im DGB bei 6,2 Millionen Mitgliedern nur rund acht Prozent ausmacht. In Sachsen beträgt der Anteil der DGB-Jugend sogar nur rund fünf Prozent. Augenscheinlich fehlt den Gewerkschaften der Nachwuchs und damit auch eine gewisse Frische.
Mirco hilft seiner Tochter Clara aus der Hüpfburg und nimmt sie liebevoll auf dem Arm. „Trotzdem, Demokratie existiert doch nicht nur aller vier Jahre! Demokratie muss täglich erkämpft werden, im Diskurs, am Arbeitsplatz fängt es an!“ Mirco ist als studierter Volkswirtschaftler zurzeit Werksstudent bei den Leipziger Stadtwerken. Für ihn steht fest, wenn er einmal in einem Unternehmen festangestellt ist, will er in den Betriebsrat und dort für das demokratische Prinzip innerhalb des Unternehmens eintreten. Clara will noch einmal hüpfen. Auf der Bühne machen sich die offiziellen Redner bereit.

DGB fordert Mindestlohn

Bernd Günther, DGB-Vorsitzender der Region Nordsachsen, trägt Anzug und spricht routiniert von moderner Sklaverei und meint die Leiharbeit. Sie sei: „die Säure der deutschen Arbeitsmarktes“, in dem 1,2 Millionen Menschen für unter 4 Euro Stundenlohn arbeiten und weitere 6 Millionen mit einem Durchschnittslohn von 6,78 Euro pro Stunde auskommen müssten. Der DGB fordert einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro und gleichen Lohn für Leiharbeiter. Am Kroch-Hochhaus im Hintergrund prangt unter dem Dach eine Aufschrift „Omnia vincit labor“. Arbeit überwindet alles. Vor der Bühne sitzen einige Menschen an vier Biertischen und lauschen gespannt. Die Menschen dahinter drängen sich weiter an den Ständen.
Nach der Rede einer Erwerbslosen tritt Leipzigs Oberbürgermeister Burkhardt Jung, SPD, auf. Jung spricht engagiert und dynamisch. Die Menschen auf dem Platz drehen ihre Köpfe jetzt in Richtung Bühne. Er bricht das Thema Mindestlohn auf die kommunale Ebene herunter. „Jedes vierte Kind wächst in Leipzig in Armut auf. Und die Leute, die sich am meisten darüber aufregen, sind auch die Leute die sich dem Mindestlohn verweigern. Das ist doch Paradox!“
Lauter Beifall. „Es ist unerträglich, dass Menschen bei 40 Stunden Arbeit ihre Miete nicht bezahlen können und stattdessen die Kommune dies übernehmen muss!“ Wieder lauter Beifall.

Für ein ruhiges Gewissen

Mirco kommt mit Clara auf dem Arm von der Hüpfburg zurück. „Jung hat Recht“, sagt er, „und er hat auch den richtigen Ansatz. Er zeigt die Probleme lebensnah und greifbar.“ Das ist es auch, worum es ihm in seiner Gewerkschaftsarbeit geht. „Etwas Konkretes tun, etwas bewegen. Ich habe einfach ein ruhigeres Gewissen, wenn ich abends ins Bett gehe. Ich habe meinen Beitrag geleistet, Dinge zu verbessern. Und das kann jeder!“

Die Reden auf der Bühne sind verstummt. Die Gewerkschaftsfunktionäre in ihren Anzügen, suchen den Kontakt zu den Menschen. Sie wirken wie Fremdkörper, nicht wie Kollegen. Die Nachbarn des KPD-Standes haben das Feld geräumt. Es klafft eine Lücke. Dadurch stehen die alten Herren von der KPD nun auch optisch auf verlorenem Posten. Die Fahne mit Stalins Konterfei ist ebenfalls verschwunden. Die Hüpfburg ist nun nicht mehr traurig. Ein Duzend Kinder springen darauf wild durcheinander. Ihre jungen Eltern stehen diskutierend davor. Einige von ihnen tragen rote Nelken, andere bunte Kleidung. Mirco macht sich winkend mit seine kleinen Familie auf den Heimweg. Der nächste 1. Mai kommt ganz bestimmt.
   








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