Selbst bilden und aneignen
GESELLSCHAFT | AUSBLICK (21.06.2009)
Von Boje Maaßen | |
In den berechtigten Forderungen des Bildungsstreiks vermisse ich die Selbstverpflichtung, sich der schönen, oft mühevollen Aufgabe, sich zu bilden, wenn denn die Voraussetzungen stimmen, ohne Wenn und Aber hinzugeben. Eines der großen Transparente, die rund 1400 Schüler und Studenten in Flensburg auf einer Demonstration gegen die gegenwärtige Bildungspolitik in Flensburg mit sich tragen, lautet: “Wir bestreiken ein Menschenbild – Für kollektive Aneignungsprozesse statt Leistungszwang”. Dieser Slogan hat mir besonders gut gefallen. Warum? Das in der gegenwärtigen Bildungspolitik vorherrschende Menschenbild ist ein reduktionistisches, die Vermittlungsprozesse sind technologisch ausgerichtet. Diesem Menschenbild widersprechen die Schüler und Studenten nicht nur theoretisch, sondern auch Leergefegte Hörsäle in der Streikwoche. (c) M. Billig Projektunterricht und Freiräume Theoretisch argumentiert der Slogan gegen ein Menschenbild, formuliert aber nicht das „richtige“ Bild – und das mit Recht, denn dieses ist im Sinne von „individuum est ineffabile“ (der Mensch ist unergründbar) nicht bestimmbar und, was noch wichtiger ist, der Mensch verfügt über Freiheit. Zweifelsfrei hat er Anlagen zur Selbstbildung. Zu versuchen, diese in ihrem Umfang, in Tiefe, Fragilitäten, Potentialität, Unwägbarkeiten, Kraft und Schwäche zu bestimmen, ist falsch. Kein Mensch, auch kein Wissenschaftler, vermag dies zu leisten. Eine Teilantwort gibt es nur in und durch die Praxis, auf die alles ankommt. Sie muss kollektive Aneignungsprozesse im Projektunterricht ermöglichen - ein Konzept, das von einem offenen Menschenbild ausgeht und mit diesem operiert: Offenes Menschenbild und Projektunterricht sind kompatibel, sie bedingen einander. Diese Dialektik von der Unbestimmtheit der Anlagen und Bestimmtheit ihrer Erscheinungen gilt es im Rahmen von Projektarbeit zu verwirklichen und damit auch ein notwendiges Risiko einzugehen. Für ein Gelingen, sind zwei „gleichberechtigte“ starke Bedingungen zu erfüllen: Einerseits muss eine Lernumwelt in Form von kompetenten Lehrenden, Infrastrukturen einschließlich von Freiräumen für selbstbestimmtes Lernen vorhanden sein, andererseits müssen die Schüler und Studierenden sich mit Engagement auf ihren eigenen Bildungsprozess konzentrieren. Zugespitzt: Gut ausgestattete Lernorte ohne engagierte Lernende bringen keine Bildung hervor. Bildung ist im Kern immer Selbstbildung. Aber auch umgekehrt passiert nichts: Wenn engagierte Schüler und Studierende keine angemessenen Lernbedingungen vorfinden. Bildung ist immer Selbstbildung. Zu denken, dass günstige Lernbedingungen automatisch Bildung hervorbrächten, wäre Ausdruck eines technischen Denkens, das ja gerade von Schülern und Studenten kritisiert wird. Dieses „Selbst“ kann keinem Lernenden abgenommen werden, von keinem Lehrenden, von keiner Institution, von keiner noch so umfangreichen Finanzspritze. Salopp formuliert: Es handelt sich um ein Geschäft: „Ihr schafft günstige äußere Bedingungen, wir bilden uns.“ Gegen Konsum, für Bildung Zusammengefasst: Die Schüler und Studenten wollen sich bilden (nicht Bildung bekommen) und die Gesellschaft muss für die Bedingungen sorgen, damit die Schüler und Studenten diesen Selbstbildungsprozess realisieren können. Im Zentrum ihres Protestes steht die Möglichkeit und nicht die Verhinderung von Bildung. Bildung ist nicht ein Wert unter vielen, sondern ein zentraler: Der Philosoph Maimonides (1135 – 1204) spricht von vier Vollkommenheiten, die der Mensch anstreben könne: Erwerb von weltlichen Gütern, von körperlicher Schönheit, von moralischer Integrität und von höchsten geistigen Fähigkeiten, wobei diese Reihenfolge gleichzeitig eine Rangfolge der Wertigkeit ist, die in der warenproduzierenden Industriegesellschaft sich offensichtlich genau umgekehrt hat. Entscheidet Euch gegen den Konsum und für die Bildung, bildet Euch! Aber was heißt Bildung inhaltlich? Sicherlich nicht allein Erwerb von lexikalischem und funktionalen Fähigkeiten und Wissen (das auch), sondern sich und die Welt besser verstehen und bewerten zu können sowie gegebenemfalls zu kritisieren und zu verbessern. Bildung heißt auch, von anderen lernen zu wollen, neugierig zu sein, eigene Wege zu gehen, an gute Tradition anzuknüpfen, sich selbst als Prozess zu begreifen und zu realisieren – all das ist Selbstbildung. |