Fünf Tage Bildungsstreik: Wenig Uni und trotzdem viel gelernt
KULTUR | FAZIT (21.06.2009)
Von Julia Schüler | |
Ich sitze im Zug nach Frankfurt. Draußen zieht das Marburger Schloss an mir vorbei, dann die Türme der Philosophischen Fakultät, dann der Busbahnhof. Ich lasse Marburg hinter mir und damit fünf Tage Bildungsstreik. Ich denke an Montag und Dienstag. Dabei fällt mir ein, dass ich vergessen habe, meinen Regenschirm einzupacken. Im Radio hatten sie doch schlechtes Wetter angesagt, zumindest wechselhaft. Dann aber fällt mein Blick auf meinen nackten rechten Arm, der ziemlich braun ist. Ich streiche darüber und denke, wie rot die Haut am Mittwochabend war und ich das Gefühl hatte, jemand hätte Zwiebeln darauf geschnitten. Zuvor hatte ich wieder einmal das einzigartige Gefühl miterleben dürfen, zwischen Bildungsstreik am 17. Juni in Marburg. (c) J. Schüler wenig anfangen. Ich komme aus Sachsen. Acht Jahre Gymnasium sind dort die Regel, meines Wissens auch schon immer die Regel gewesen. Obwohl ich immer der Typ war, der lieber ein bisschen mehr arbeitet als zu wenig, habe ich keine oder zumindest sehr wenig Erinnerung an das Gefühl, während der Schulzeit überfordert gewesen zu sein. Und: Ich weiß nach wie vor grob über den Aufbau einer Nervenzelle Bescheid, kann Goethes Werke literarisch in Epochen einordnen und auch bei Rationalen Zahlen ist „Vernunft“ nicht das erste Stichwort, das mir in den Sinn kommt. Nicht erklären kann ich mir, warum man bei der Einführung von „G8“ offenbar nicht auf die neuen Bundesländer geschielt hat – selbstverständlich nur zur groben Orientierung. Keine Abkehr vom Bachelor, sondern Verbesserung – und zwar schnell Was die Forderung der Studenten angeht, so stößt mir auch „die Abkehr vom Bachelor als Regelstudienabschluss“ (Quelle: Broschüre „Kurzinfos zum Bildungsstreik“) sauer auf. Zum Einen, weil ich mich mit meinem Bachelor-Abschluss tatsächlich nicht so fühle, als ob ich in jedem Moment den Arbeitsmarkt entern könnte. Zum Anderen, weil man es sich mit dieser Forderung ganz schön einfach macht. Aus diesem Grund habe ich am Donnerstag, den 18. Juni, eine Bildungsstreikveranstaltung besucht, die sich „Selbstbestimmtes Studium unter Bachelor und Master?!“ nannte und eine mehr lösungs- als protestorientierte Diskussion dieser Forderung versprach. Meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Die Referentin, ein Mitglied des Landesausschuss der Studentinnen und Studenten (LASS) in der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft Niedersachsen, notierte zunächst alles, was uns 24 Teilnehmern zu dem so genannten „Bologna-Prozess“ einfiel. Das waren Stichworte wie Mobilität, verkürzte Studienzeit, schneller auf dem Arbeitsmarkt, Europa, Konkurrenz unter den Studierenden, Vergleichbarkeit mit Studiengängen im Ausland, Anwesenheitslisten, geringere Abbrecherquote, Notendruck- und -pflicht, keine Zeit für Auslandssemester. Im Anschluss daran erzählte sie ein bisschen mehr über die Bologna-Reform, gewissermaßen den Teil, den man als Student gern ausblendet, wenn man darüber stöhnt, dass man 37 Klausuren in fünf Tagen schreiben muss. (Siehe: StudiVZ-Gruppe „Ich bin Bachelor und ich schreibe gern 37 Klausuren in 5 Tagen.“) Vor exakt zehn Jahren vereinbarten europäische Bildungsminister in Bologna, bis 2010 einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen. Auslandssemester sollten ein grundsätzlich möglicher Bestandteil eines jeden Lebenslaufs werden. Und zwar dadurch, dass gleiche Studieninhalte und gleiche Noten eine Anerkennung an der Heimathochschule ohne bürokratischen Aufwand garantierten und sich dadurch die Gesamtstudiendauer im Vergleich zur Regelstudienzeit nicht verlängern würde. Insgesamt hört sich das meiner Meinung nach gar nicht so schlecht an. Aber die konkrete Umsetzung der Reformziele, das wissen wir, hinkt nicht nur punkto Auslandssemester - Bachelor- Studenten gehen nämlich seltener ins Ausland als Diplom- oder Magister-Studenten. Das konnten wir diese Woche bundesweit ziemlich laut hören und lesen. Konkurrenzkampf an den Unis und in der Gesellschaft Die Referentin umkreiste an der Tafel all diejenigen Stichpunkte, die zu den tatsächlichen Zielen und zweifellos in den meisten Fällen „guten“ Absichten der Reformatoren. Übrig blieben „Konkurrenz unter den Studierenden“, „Anwesenheitslisten“, „Notendruck und –pflicht“. Kurzes Schweigen. „Aber“ wand eine Teilnehmerin ein, „wenn alle Kommilitonen den Stoff in sechs Semestern bewältigen und ich sieben oder acht Semester brauche, dann ist das ein doofes Gefühl.“ Eine andere nickte und sagte: „Also stimmt es doch, dass Anwesenheitslisten eine deutsche Erfindung sind. In anderer europäischen Ländern ist das doch nicht so“. Die Referentin bejahte. „Das ominöse Gefühl, schneller und besser sein zu müssen als die Kommilitonen, ist kein Ziel des Bologna-Prozesses gewesen und es ist auch kein Resultat, das typisch für die Reform ist“, sagte sie. Ich musste zugeben, dass sie Recht hatte. Dieses ominöse Gefühl, besser und schneller sein zu müssen als der Mitmensch, ist ein Phänomen unserer Zeit und unserer Gesellschaft. Es hat sich ganz offensichtlich in einer sehr intensiven Form in den Köpfen der Menschen festgesetzt. Die „Ellenbogenmentalität“ in einer so starken Ausprägung wie an den Hochschulen führt zu Elite-Denken. Auch das scheint mir ein typisch deutscher Sonderweg zu sein. Genau diese „Nebenwirkungen“ der Hochschulreform nehmen dem Studium seinen „selbsterfüllenden“ und „bildungsaufbauenden“ Zweck. Seufzend greife ich in meine Tasche und hole einen hoffentlich ergiebigen Text für meine Hausarbeit, die ich bald abgeben muss, heraus und mache es mir damit in meinem Sitz bequem. Die Beschäftigung mit der Wissenschaft ist diese Woche wahrlich zu kurz gekommen. Aber das macht nichts. Was ich gerade aus Marburg mitnehme, fühlt sich wesentlich gebildeter an als das, was ich manchmal nach fünf Tagen Bibliothek und Lehrveranstaltungen im Gepäck habe. |