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Zur Begrifflichkeit von Armut
WIRTSCHAFT | ACH, ANGOLA (15.01.2006)
Von Karen Möhring
Wenn ich als Akademiker über Armut nachdenke, dann denke ich meistens an diesen einen Dollar, mit dem Menschen auskommen müssen. Wenn ich aber weiterdenke und -lese, stelle ich fest, dass Armut viel mehr ist.

Der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen hat Armut als ein Mangel an Rechten und Fähigkeiten definiert: Mangel an Recht, sich zu beteiligen und Einfluss zu nehmen. Mangel an Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung, Kredite und Gesundheitswesen. Dies ist ein sehr viel umfassender Begriff als es vorher der Fall war mit der Beschränkung auf rein ökonomische Faktoren (also Armut gleich kein Geld haben). Der von den Überlegungen des Nobelpreisträgers inspirierte Human Development Index (HDI) stellt eine bedeutende Weiterentwicklung im Umgang mit der Armut dar, bleibt aber immer noch hinter Sens Armutsbegriff zurück. Dort werden ökonomische Kriterien (auf Landesebene das Durchschnittsseinkommen pro Kopf) mit Bildung (Alphabetisierungsrate) und Gesundheit (Lebenserwartung) verknüpft.

Angola belegt im HDI den traurigen Platz 160 von 177 Ländern. Auf den ersten Blick mag einem das durchschnittliche - im Vergleich mit anderen Ländern recht hohe - Prokopfeinkommen von 2344 US-Dollar auffallen. Das liegt jedoch daran, dass Angola mit seinen Erdöl- und Diamantenvorkommen ein potenziell reiches Land ist, die Erlöse aus diesen Ressourcen aber nur bei sehr wenigen Menschen ankommen. Die Ungleichheit in Angola erreicht lateinamerikanische Ausmaße - Lateinamerika ist weltweit der Kontinent mit der größten Ungleichheit der Einkommensverteilung. Es gibt also sehr, sehr, sehr reiche Menschen und sehr, sehr, sehr viele arme Menschen. Was eben dazu führt, dass die Lebenserwartung bei unter 41 Jahren liegt und die Hälfte aller Angolaner unter 15 (!) Jahren jung ist. Außerdem besuchen nur durchschnittlich 30 Prozent Schul- oder Hochschuleinrichtungen - eine der niedrigsten Raten der Welt.

Zahlen, Zahlen, Zahlen. Wie sieht so etwas in der Realität aus? In Angola, wo ich 2005 gearbeitet habe, ging mir so manches Mal der Satz durch den Kopf: "Die sterben hier wie die Fliegen." Ständig fehlte jemand auf der Arbeit, weil wieder eine Beerdigung stattfand. Ständig erzählte jemand, wen es wieder erwischt hatte. Eine Ärztin, die immerhin 15 Jahre Erfahrung in Krisengebieten Afrikas hat, erzählte mir, dass sie so kaputte Gesundheitsstrukturen wie in und um Menongue, immerhin eine Provinzhauptstadt, noch nie gesehen habe. Die dazugehörige Provinz Kuando Kubango ist die ärmste und rückständigste Angolas, das von einem 27-jährigen Bürgerkrieg gezeichnet ist. Auf dem Papier existiert ein Gesundheitswesen in Angola. Meist besteht eine Krankenstation aber nur noch aus Ruinen. Der Zugang zum Gesundheitswesen ist also für jene, die auf lokale Versorgung angewiesen sind und sich keinen Flug in die 1000 km weit entfernte Hauptstadt Luanda leisten können, eingeschränkt. Krankenhäuser sind nicht mal flächendeckend mit Moskitonetzen ausgestattet! Und Malaria ist neben Durchfallerkrankungen die tödlichste aller Krankheiten in dieser verlassenen Ecke am "Ende der Welt".

Armut in Städten hat ein viel brutaleres Gesicht als auf dem Land. Während Menschen in Kuando Kubango in ihrer eigenen Hütte wohnen, hausen die Armen der Städte in Verschlägen, die aus Abfall zusammengebaut sind. Kinder schlafen auf dem Bürgersteig und abgerissene Menschen wanken einem vors Auto. Alte Leute stehen bis zu den Knien im Müll und suchen nach etwas Verwert- oder Essbarem. Das ist es, was Armut alltäglich bedeutet. Es bedeutet aber auch, dass Menschen willkürlich der Regierung ausgesetzt sind. In Menongue hat die Regierung entschieden, dass die Eisenbahn wieder aktiviert werden soll. In den letzten Jahren hat sich auf der alten Bahntrasse eine Siedlung gebildet? Egal, sind doch Menschen ohne Einfluss, sollen sie doch ihre Häuser in einer anderen Ecke wieder aufbauen! Und dann war plötzlich auch der Markt weg, in dieses neue Viertel umgezogen, den Menschen hinterher, in ein Viertel ohne gewachsene Strukturen und Mittelpunkt. In Kuando Kubango haben sogar Menschen, die über ein Mindestmaß an Bildung verfügen, Angst mit einer Zeitung gesehen zu werden, die dem einen oder anderen Lager des vergangenen Bürgerkrieges nahe steht, weil sie Rache von der jeweils anderen Fraktion befürchten. Wenn denn überhaupt der Zugang zu Medien besteht. Die, die es sich leisten können, kaufen einen Fernseher mit Satellitenempfang. Und die Leute von der lokalen Regierung haben natürlich die regimetreue Zeitung auf ihrem Schreibtisch liegen, wenn auch nicht immer die aktuelle. Aber nicht mal die gibt es irgendwo zu kaufen.

Rechtlosigkeit und Mangel an Fähigkeiten wie die Vorgenannten zu erfassen, daran scheitern auch die Vereinten Nationen, die den Human Development Index entwickelt haben. Wenn Armutsbekämpfung funktionieren soll, muss auch die Begrifflichkeit stimmen. Könnte man die verschiedenen Aspekte eines umfassenderen Armutsbegriffes wie von Amartya Sen vorgeschlagen zusammen untersuchen, wüsste man mehr darüber, wie die einzelnen Aspekte zusammenhängen. Nach meinen persönlichen Beobachtungen, die mir bei dem Begriff durch den Kopf gingen und die naturgemäß subjektiv sind, finde ich eine solche Begrifflichkeit plausibel. Arm sein heißt nicht nur, kein Geld zu haben. Sondern eben auch keine Möglichkeit, diesen Zustand aus eigener Kraft zu verändern.
   









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