Kein Kinderspiel
GESELLSCHAFT | PHILIPPINEN (15.01.2007)
Von Niklas Reese und Maike Grabowski | |
Kinderarmut in Deutschland unterscheidet sich von Kinderarmut anderswo. Ein Beispiel, an dem das deutlicht wird, sind die Philippinen. Das Land mit den über 7.000 Inseln kann als beispielhaft für jene Armut gesehen werden, der Kinder in ganz Südostasien ausgesetzt sind. Kinderarbeit in der Stadt. (c) Maike Grabowski Eine Familie ohne Kinder gilt als unvollständig. Dass viele der weißen Besucher (noch) keine Kinder haben, stößt weithin auf Unverständnis. Kinder gelten als Gnade Gottes, für Männer als Beweis ihrer Männlichkeit und für Frauen als Erfüllung ihrer Weiblichkeit. Der Kindersegen kann aber auch leicht zum Fluch werden. Gerade für arme Familien ist es oft unmöglich, die vielen hungrigen Mäuler zu stopfen. Zugleich sind Armut und mangelnde soziale Sicherung ein wichtiger Grund für viele Kinder. Kinder gelten in den Philippinen nicht nur als Geschenke Gottes, weil sie die Liebesgefühle der Eltern zueinander zeigen, sondern auch weil sie in armen Familien einen Beitrag zur Familieneinkommen leisten können. Gerade für die Armen bedeuten viele Kinder auch Vorsorge gegen Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter. Je mehr später arbeiten können, desto sicherer verspricht das "Sozialamt Familie" zu funktionieren. "Die ersten Jahre deiner Karriere gehören den Eltern und deinen jüngeren Geschwistern", hört man häufig. Welches Studium man aufnimmt, welchen Beruf man ergreift, ob man sich zur Migration entschließt, dies wird maßgeblich von dieser sozialen Norm mitbestimmt. Eine gute Bildung der Kinder gilt als Hauptaltersvorsorge. Arme Kinder haben jedoch nur dann Zugang zu kostenpflichtiger qualifizierter und höherer Bildung, wenn sie eines der spärlichen Stipendien erhalten oder eine Stelle als Werkstudent/in (working students) finden. Armut unter Kindern hat außerdem mangelnde Leistungsbereitschaft und die Unfähigkeit, für Schuluniform und Schulbücher aufzukommen, zur Folge. Auch deswegen bleiben sie im Teufelskreis der Armut, unzureichender Bildung, früher Heirat, daher zahlreicher Kinder und niedrig bezahlter unregelmäßiger Arbeit gefangen, dem ihre Eltern vor ihnen gefolgt sind Diejenigen, die über mehr Geld verfügen und mit eine sichereren Zukunft rechnen können, haben meist weniger Kinder. Kinderarbeit Von den Kindern wird erwartet, so früh wie möglich im Haushalt oder bei der Arbeit zu helfen. Die Erwartungen beziehen sich dabei stärker auf Mädchen als auf Jungen, die als zukünftige Versorger ihrer eigenen Familien gesehen werden. Eine besondere Position nehmen häufig die ältesten und jüngsten Töchter ein. Die Beschäftigung von Kindern im Alter von unter 15 Jahren und die Beschäftigung von unter 18-Jährigen für gefährliche Tätigkeiten ist per Gesetz verboten (Republic Act No. 7658). Dabei wird allerdings zwischen "akzeptabler Beschäftigung" Minderjähriger und Kinderarbeit im Allgemeinen unterschieden. Außerdem gestattet der RA 7658, Kinderarbeit, wenn sie von den Eltern erlaubt wird. In einem armen Land wie den Philippinen besteht zwischen rechtlichen Vorgaben und gesellschaftlicher Realität ein großer Unterschied. Vier Millionen Kinder zwischen sechs und zwölf haben nach Angaben des nationalen Statistikamtes 2001 arbeiten müssen, 2,9 Millionen von ihnen gar ohne Bezahlung. Über die Hälfte der vier Millionen arbeitenden Kinder sind einer gefährlichen Umgebung ausgesetzt sein. 34 Prozent der Kinder beenden nicht einmal die Grundschule - obwohl sie umsonst ist. Besonders in den Slums der Großstädte sowie in ländlichen Regionen ist ihr Anteil sehr hoch. In armen Familien müssen oft alle, das heißt auch Kinder zum Familieneinkommen beitragen. Dabei ist es nicht nur Verarmung, sondern auch die philippinische Kultur, die zu erhöhter Kinderarbeit führt. Kinderarbeit ist im Land sozial akzeptiert. Sie wird für einen Teil der philippinischen Lebensweise gehalten. Arbeitende Kinder werden als fleißig, gehorsam und gut angesehen. Dieses Phänomen dürfte sich jedoch maßgeblich auch dadurch zu einer kulturellen Norm verfestigt haben, dass Armut für die meisten Filipinos seit jeher eine selbstverständliche Rahmenbedingung ihrer "Lebensweise" gewesen ist. Es sind oft Kinder, die für ein paar Centavos Blumen, Süßigkeiten, Zigaretten oder Zeitungen an und auch auf der Straße verkaufen oder auf den Müllhalden nach Brauchbarem suchen. Um ihre Eltern zu unterstützen, sehen sich viele Kinder schon in jüngsten Jahren gezwungen, Schuhe zu putzen, Autos zu waschen, Eis zu verkaufen, auf den Feldern zu helfen oder schlimmer noch, in Bergwerken oder als Prostituierte zu arbeiten. Im Jahre 2000 verzeichnete das DSWD (Department of Social Welfare and Development) 227 Fälle von Kindern, die sexuell ausgenutzt wurden. Die Dunkelziffer liegt sicherlich wesentlich höher. Die UNO schätzt, dass 60.000 von 100.000 weiblichen Prostituierten Kinder sind. Das DSWD nannte rund 3.500 Fälle von Aussetzung und Vernachlässigung sowie knapp 5.000 Fälle sexuellen Missbrauchs. Straßenkinder gehören heute zum Erscheinungsbild jeder philippinischen Stadt Armut, familiäre Konflikte, der Verfall von Familienstrukturen und Missbrauch sind Hauptursachen dafür, dass Minderjährige auf der Straße enden, wo sie auf sich allein gestellt sind und ihren Lebensunterhalt im informellen Sektor oder durch illegale Tätigkeiten bestreiten. Angaben zur Zahl von Straßenkindern sind schwierig zu machen, da Datenerhebungen aufgrund der Mobilität der Straßenkinder nur schwer möglich sind und es keine umfassenden Studien gibt. Auch unterscheiden sich die Statistiken von Regierungsinstitutionen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) extrem voneinander. Während UNICEF nur von 80.000 Straßenkindern ausgeht, gehen NRO von circa 1,5 Millionen Straßenkindern landesweit aus. Ein Großteil von ihnen stammt aus Großfamilien mit durchschnittlich vier bis acht Personen. NRO unterscheiden dabei zwischen drei Kategorien von Straßenkindern: Circa 65 Prozent leben im Familienverbund und arbeiten auf der Straße, um zum Lebensunterhalt ihrer Familien beizutragen. Die zweite Gruppe, die rund 25 Prozent ausmacht, hat nur sporadischen Kontakt zu den Familien und lebt in Banden (barkadas) auf der Straße. Die dritte Kategorie, sogenannte "Hardcore Children", haben jeglichen Familienkontakt abgebrochen. Ihr Anteil stieg in den vergangenen Jahren von 5 Prozent auf heute rund 10 Prozent. Straßenkinder sind oft Opfer von Gewalt und zunehmend auf den Abschusslisten von sogenannten Todesschwadronen (death squads). Die Mörder nennen das "soziale Säuberung". Viele Hinweise deuten darauf hin, dass die Todesschwadronen ihre Aufträge von Regierungsseite erhalten. Kinderarbeit auf dem Land Die Dörfer Toboso, Murcia, Escalante und Bago bestehen jeweils aus etwa 40 bis 50 Familien. Sie ernten Zuckerrohr und jäten Unkraut auf den Haciendas, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Für jeden Hektar, den sie vom Gras befreit, bekommt eine Familie 800 Pesos (ca. 12,50 Euro / 1 Euro sind rund 64 Pesos) in der Woche. Während der Ernte erhält jede/r 50 Pesos am Tag für das Schneiden von Zuckerrohr. Die Kinder werden als unbezahlte Familienarbeiter eingesetzt und schaffen es oft trotzdem, zur Schule zu gehen. Anders als in der Stadt ist die Schule allerdings zwischen drei und fünf Kilometer entfernt, so dass die Kinder entweder 20 Pesos für die Fahrt bezahlen oder zwei Stunden lang zu Fuß gehen müssen, um dort hin zu gelangen. Der Unterricht geht von montags bis freitags, doch die Kinder aus den Dörfern können die Schule in der Regel nur an drei Tagen besuchen, weil sie an den zwei anderen bei der Arbeit auf dem Feld helfen müssen. Diese Umstände beeinträchtigen natürlich die Ausbildung der Kinder. Die Familien möchten, dass ihre Kinder höchstens die High School abschließen, weil sie auf den Feldern helfen müssen; an ein Studium am weiterführenden College ist nicht zu denken. Der Fall des 15jährigen Tata ist ein trauriges Beispiel für das harte Leben dieser Kinder. Mit zwölf jätete er Unkraut auf der Hacienda und verdiente 50 Pesos am Tag für 8 Stunden Arbeit. Zwei Jahre später schnitt und trug er Zuckerrohrblätter, dafür bekam er monatlich zwischen 1.000 und 2.000 Pesos bei 10 Stunden Arbeit am Tag. Diesen Job, den er selbst als "schlecht bezahltes Abrackern" bezeichnet, machte er nur fünf Monate. Seitdem arbeit er in Nachtschichten für La Tondena in Bago City, wo er Fässer rollt und Melasse abfüllt. Dort bekommt er täglich 100 Pesos und zusätzlich 50 Pesos für jede Überstunde. Seine Schicht beginnt um 6 Uhr abends und endet am nächsten Morgen um 4 Uhr. Er sagt, auch diese Arbeit sei öde, aber erträglich. Unter seinen Kolleg/innen sind 20 weitere Kinder zwischen 15 und 17 Jahren. ....und in der Stadt In dem Bezirk Malanday, mitten in Metro Manila leben ungefähr 80 bis 100 Familien. Sie sichern sich ihren Lebensunterhalt damit, dass sie Schuhe herstellen. Für jedes Paar Schuhe bekommt eine Familie (mit vier bis fünf Kindern) 300 Pesos. Am Tag schaffen sie, wenn die ganze Familie hilft, drei Paar. Das Geld reicht kaum um das Überleben zu sichern. Es gibt Tage ohne einen einzigen Auftrag, oder es müssen Aufträge von kleineren Firmen angenommen werden, die nur 50 Peso pro Paar bezahlen. Dagegen ist die Auftragslage vor Weihnachten und vor Schulbeginn immer gut. Die Kinder können und müssen zu dieser Zeit kräftig mithelfen. Während der Schulzeit helfen sie gewöhnlich den Eltern oder anderen Verwandten nach dem Unterricht, während den Ferien den ganzen Tag. Sie müssen einzelne Stücke zusammen kleben, Sohlen zuschneiden und Löcher für die Schnürsenkel stechen. Die Kinder gelten als unbezahlte Familienmitarbeitende, ihre Mithilfe ist allerdings von großer Bedeutung. Kinderprostitution Minderjährige, jungfräuliche Prostituierte, selten älter als elf Jahre, gelten im gesamten ostasiatischen Raum als besonders potenzsteigernd und - im Zeitalter von AIDS - als besonders "sauber" und sicher. In den Philippinen soll es zwischen 40.000 and 100.000 Prostituierte geben, die jünger als 16 sind. Die Zuhälter der Kinderprostituierten sind meist Mitglieder der eigenen Familie, bei der die Mehrzahl der Kinder auch lebt. Viele der Kinder machen durch den Vater oder andere männliche Verwandte die erste sexuelle Missbrauchserfahrung in ihrem Leben. Die Eltern rechtfertigen die Vermittlung der Kinder in die Prostitution damit, sie würden - und die Kinder wollten ja - ihrer Familie damit aus der Armut helfen; sogar die lokale Gemeinschaft profitiere. Minderjährige Prostituierte erzielen einen besonders hohen Preis. Außerdem sind sie besonders leicht lenkbar und gut zu kontrollieren. 35 Prozent der Kinderprostituierten sind Straßenkinder; es gibt Kinder-Zuhälter, die jüngere Kinder als Prostituierte vermitteln. Wie weltweit steigt auch in den Philippinen die Nachfrage nach minderjährigen Prostituierten, und das Alter der Prostituierten insgesamt sinkt. Die Philippinen exportieren minderjährige Prostituierte auf den Sexmarkt in Japan und Malaysia. 2003 erließen die Philippinen ein nationales Gesetz, dass den Handel in der breiten UNCOC-Definition von Minderjährigen streng bestraft. Seitdem gelangt nur eine geringe Zahl von Fällen vor Gericht. Das Gesetz kommt aber kaum zur Anwendung. Die Philippinen sind ein Paradies für westliche Päderasten, die sich in den Philippinen ansiedeln und mit philippinischen Kindern Sexvideos drehen, die sie dann über das Internet vermarkten. Sie werben für Sexreisen von Päderasten auf die Philippinen und organisieren diese. Fazit Kinder werden Leute - aber sie bleiben arm. Soziale Mobilität ist in den Philippinen eher selten zu beobachten. Die gesellschaftlichen Positionen werden in der Regel über Generationen hinweg vererbt. Kinder von landlosen Bauern werden mit hoher Sicherheit selber mal landlose Bauern sein. Kinder und besonders Waisen gelten nicht zu Unrecht als eine besonders verwundbare und daher Hilfe am meisten bedürftige Gruppe - aber dass nur sie allein das Herz der "guten Menschen" im globalen Norden rühren, ist fehl am Platz. Der Skandal sind nicht bloß die Hungerbäuche "üßer" Kinder, sondern dass wir in einem Wirtschaftssystem leben, das immer mehr Menschen zu Überflüssigen erklärt, die Mittellose diskriminiert und Armut produziert - auch Kinderarmut. Wenn die strukturellen Ursachen der Armut nicht angegangen und die Linderung der Folgen bloß dem privaten Mitleid überlassen wird, werden die meisten Kinder, wenn sie erwachsen werden, arm bleiben - und auch in Zukunft die meisten Kinder arm sein. Dieser Artikel ist bereits in der Dezemberausgabe der Sperre 2006 erschienen. Weiterführende Literatur:
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