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Übers Warten am Ende der Welt
GESELLSCHAFT | ENTWICKLUNG IN ANGOLA (15.04.2005)
Von Karen Möhring
Was für ein Zufall, gerade ein Buch über den "Umgang der Kulturen mit der Zeit" mit nach Afrika zu nehmen. Hier in Menongue, in der südöstlichen Provinz Angolas, Kuando Kubango oder auch gerne "Fim do mundo" genannt, werden Begriffe wie Ereigniszeit und unterschiedliche Zeitauffassungen als Ursache für interkulturelle Missverständnisse plötzlich real.

Wenn ich im Büro sitze, einige unserer Angestellten in einen Plausch vertieft sind, draußen auf der "Straße" aus Sand oder Schlamm schlendern Menschen vorbei, die manchmal einen Gruß rufen, eine Ziege schlurft meckernd über die Straße und Hühner mit Küken schnattern durch den Garten - dann scheint mir das sehr nach Ereigniszeit auszusehen: Warten, dass etwas passiert. Der Tagesablauf wird durch eintretende Ereignisse bestimmt. Uhrzeiten sind nicht so wichtig. Weshalb es vielleicht auch manchmal schwierig ist, Leute auf ihrer Arbeit anzutreffen. Was allerdings durchaus an der Tatsache liegen könnte, dass die Regierung schlecht, nicht oder verspätet bezahlt Entsprechend sollte man sich hier als durchschnittlicher Mitteleuropäer eine großzügige Portion Langmut antrainieren. Wegen eines geplanten Projektes im Bereich Tuberkulose will ich also die zuständige "Delegierte", Dona Xix der Provinz kontaktieren, um dann später das Krankenhaus und das Spital für Tuberkulose, genannt "Sanatorium", zu besuchen und von den dort Zuständigen Informationen zu bekommen. Was in Deutschland mit entsprechendem Termin vielleicht einen Tag in Anspruch nehmen würde, dafür muss man hier wenigstens eine Woche einkalkulieren.

Im Krankenhaus ist Dona Xix nicht anzutreffen. Da unser Fahrer sie aber persönlich kennt, fahren wir bei ihr zu Hause vorbei. Menongue soll den Statistiken zufolge über 100 000 Einwohner haben, die über viele verschiedene, zum Teil weit entfernte "Municípios" verteilt sind. Im Zentrum von Menongue jedoch hat man den Eindruck, man hat es mit einem Dorf zu tun: Jeder kennt jeden. Dona Xix ist morgens um halb zehn mit Hausarbeit beschäftigt. Eine andere Frau, die ihr dabei hilft, stampft irgendwas zu Mehl, in einer Art großen Mörser mit einem langen Stamm - wie man es halt aus diesen Filmen über Afrika kennt. Immerhin nimmt Dona Xix sich ein paar Minuten Zeit, um sich mit uns für elf Uhr zu verabreden. Um elf ist im Hospital natürlich niemand. Also zumindest nicht Dona Xix. Da sie erwähnt hat, sie wolle vorher noch bei der MPLA, der regierenden Partei, vorbei, fahren wir eben dorthin, in dem Versuch, ihrer irgendwie habhaft zu werden. Senhor Fulano wartet ebenfalls seit Tagen auf Dona Xix. Ob wir wüssten, wo sie wäre? Nebenbei meint er noch erwähnen zu müssen, dass in Jamba, nahe der Grenzen zu Sambia und Namibia, die gesundheitliche Lage besonders schlecht sei, er sei wenige Tage zuvor vor Ort gewesen. Meinen Hinweis, die Straßen dorthin seien vermint, überging er mit der Feststellung, die Straßen seien geräumt. Ich dachte, wahrscheinlich freigegeben durch die Armee, die gerne die Spurweite ihrer LKWs räumt und die Straßen für minenfrei erklärt. So geschehen 2004, als sechs lokale Mitarbeiter einer NGO eine solche Straße benutzten mit einer anderen Spurweite und auf eine Mine fuhren. Ach ja, am Ende stellt sich heraus, dass Senhor Fulano natürlich mit dem Helikopter da gewesen ist.

Die MPLA ist die aktuell regierende Partei und aus einer gegen die Unabhängigkeit kämpfenden Bewegung hervorgegangen. Der Hauptgegner während des über 40 Jahre währenden Bürgerkrieges war die UNITA, die ihren Hauptsitz in dieser Provinz hatte, irgendwo bei Kuito Kuanavale. Das führte dazu, dass Kuando Kubango am meisten gelitten hat, wenn man das Elend des Krieges denn in eine Rangfolge ordnen kann. Nirgendwo ist die Landschaft derart vermint, haben so schwere Kämpfe stattgefunden, ist die Bevölkerung verunsicherter. Wenn Margarethe, eine deutsche Missionarin, Freunden in Kuando Kubango die regierungstreue Zeitung mitbringt, verstecken sie diese immer noch verängstigt im Schlafzimmer. In Angolas Hauptstadt Luanda war schon seit 1992 kein Krieg mehr, aber erst das im April 2002 unterzeichnete Abkommen führte zur Umsetzung des Friedensvertrages von 1994. 2006 sollen Wahlen im Land stattfinden, aber dieses Misstrauen hier in Kuando Kubango gibt nicht wirklich Anlass zur Hoffnung.

Zurück zu Dona Xix. Wieder zu ihrem Haus direkt um die Ecke vom Krankenhaus aus. Dort die Nachricht, Dona Xix kleide sich gerade an, ob wir warten wollen? Nach einer halben Stunde, kurz vor zwölf mittlerweile, verlässt sie frisch geduscht und gewandet das Haus, im selben Moment kommt Senhor Fulano an, nun seinerseits auf der Suche nach ihr. Da wir um zwölf mit Senhor Xix, dem Verantwortlichen im Sanatorium, verabredet sind, lassen wir ihm den Vortritt. Senhor Xix ist immerhin anwesend und hat einen Teil der nachgefragten Information vorbereitet. Den Rest sucht er in unserer Gegenwart heraus - aus seinem Gedächtnis und mit einer beeindruckenden Langsamkeit. Währenddessen schlendert draußen eine Frau mit einer großen Plastikschüssel auf dem Kopf vorbei, Fliegen surren in der Stille. Sonst ist nichts zu hören. Fast hätte man seine Gedanken hören können.

Nachmittags haben wir mehr Glück. Mit Dona Xix fahren wir zum Krankenhaus, um das Labor desselben zu besichtigen. Es ist das wichtigste und größte Labor auf Provinzebene. Den Laborchef treffen wir dort nicht an, sondern, wie sollte es anders sein, bei sich zu Hause. Immerhin fährt er direkt mit uns zurück. Im Labor fällt der Blick auf zwei Mikroskope und einen nicht funktionierenden Kühlschrank. Der Laborchef erklärt, die Materialien seien in den Kühlschränken anderer Sektionen des Hauses untergebracht. Aber leider käme man an die natürlich nur, wenn der Verantwortliche mit dem Schlüssel gerade da wäre - was offensichtlich nicht so häufig vorkommt. Wäre es nicht so traurig, könnte man schon fast darüber lachen, so absurd kommt einem das vor.

Anschließend bringen der Fahrer und ich die beiden wieder zurück - nach Hause, wohlgemerkt, nicht zu ihren Arbeitsstätten. Nach ein paar Tagen haben wir so langsam alle Informationen über das TB-Krankenhaus zusammen. Ich habe eine Lektion über Langsamkeit bekommen und ganz nebenbei eine Menge mehr erfahren, als ich ursprünglich wissen wollte, über Kuando Kubango, über die Situation hier und über die Menschen. Da bin ich also in AFRIKA, denke ich, aber im Endeffekt ist es gar nicht so exotisch, wie ich erwartete. Ich treffe Menschen mit Sorgen, Humor, Familien und Geschichten. Gleichzeitig frage ich mich, ob man das wohl auch als Ereigniszeit bezeichnen würde: dieses unendliche Warten darauf, dass es im Frieden endlich besser wird.
   



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