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Einen Toast auf die svanischen Frauen
WIRTSCHAFT | KORRESPONDENZ (15.11.2006)
Von Karen Möhring
Wir laufen durch lichten Herbstwald, um uns zu verabschieden von einer Region, die uns in den letzten drei Monaten ans Herz gewachsen ist.

Birken- und Kiefernwälder erinnern an Nordeuropa, aber weit gefehlt. Schneebedeckte Berge, steile Hänge und steinerne Wehrtürme erinnern uns daran, dass wir im Oberen Svanetien im Hohen Kaukasus sind, im Nordwesten Georgiens gelegen. Der nahende Winter wird Svanetien vom Rest der Welt abschneiden, und dann zeigt ein anderes Merkmal der Region - neben der berauschenden Natur - ihr Gesicht, ein hässliches: die Armut.
Karen Möhring

Männer im Dorf Tsvirmi beim Toasten. Frauenräuber? (c) Karen Möhring


"Ich trinke auf Euch starke Frauen,
die Ihr aus Eurem Land herkommt,
um hier zu helfen
und mit uns für die Zukunft Svanetiens zu arbeiten.
Gaumarjus!"
(svanischer Trinkspruch)

N., Lehrerin im Hauptort Mestia, ist noch gut dran: Mit ihrem Mann hat sie Kühe, die Milch geben für den haltbaren, salzigen Käse (Sulguni) der Region, und mit ihrer Arbeit an der Schule verdient sie ein lächerliches Gehalt hinzu. Mit vier Kindern bewohnt sie ein ärmlich wirkendes Haus; Fenster sind lediglich mit Folie gegen Wind und Wetter geschützt. Andere Familien, vor allem in den entlegeneren Dörfern, müssen mit viel weniger auskommen. Außer Brot, Käse und Kartoffeln gibt es nicht viel zu essen, und Jobs sind rar gesät. Kühe geben kaum Milch (nur zwei bis vier Liter am Tag; Kühe in Deutschland schaffen bis zu 33 Liter!), weil das Heu wenig nahrhaft ist und wenn es aufgebraucht ist, die Tiere im Frühjahr häufig mit Baumknospen gefüttert werden. Kommt dann noch eine Wetterunbill hinzu, zum Beispiel eine Dürre wie dieses Jahr, die die Kartoffelernte mindert, Stürme, Hagel oder Erdrutsche, die die Felder und Straßen zerstören, reicht der Vorrat nicht für den Winter. Bei Überflutungen im Jahr 2004 kamen Hilfsorganisationen, ob bei Dürreschäden auch jemand kommt, weiß niemand.

Frauen werden geraubt

Die Abgeschiedenheit der Berge hat auch das reiche kulturelle Erbe der Svanen bewahrt. Ein brutales Überbleibsel ist der Frauenraub, bis heute praktiziert. Willigen Braut und Brautvater nicht ein in eine Hochzeit, kann der Brautwerber "seine" Braut entführen. Wird sie drei Tage lang nicht gefunden, bleibt der Frau in der Regel nichts anderes übrig, als zur Hochzeit zuzustimmen. So geschehen bei der heute 35-jährigen N. vor etwa 16 Jahren. Kehrt die "Braut wider Willen" zur Familie zurück, läuft sie Gefahr, Blutrache auszulösen, so dass sich die beiden Familien womöglich über Generationen befehden. Meist will die Familie ihre Tochter aber gar nicht zurück: Deren Ehre ist zerstört. Kein Mann wird sie je angucken, Familiengründung ausgeschlossen. Mir fällt es schwer vorzustellen, dass ich 15 Jahre mit einem Mann zusammen lebe, den ich nicht liebe, und habe Kinder mit ihm. Aber Frauen wie N. scheinen stark, sie machen das Beste aus ihrer Situation. N. liebt ihre Kinder jedenfalls über alles.
Die svanische Kultur hat aber auch eigene, oft melancholische Musik hervorgebracht sowie die charakteristischen Höfe mit Wehrturm (machubi) und reiche Kirchenschätze wie wertvolle Ikonen. All das ist charakteristisch für das Obere Svanetien - und wird als großes Potential für Tourismus betrachtet. Tatsächlich hat die Region einiges zu bieten, wie wir auf unseren Wanderungen feststellen. Wer auf gewissen Komfort verzichten mag (Plumpsklos, in den Dörfern häufig kein fließend Wasser), wird sich hier wohlfühlen. Man wird umso herzlicher in den Gastfamilien aufgenommen und verbringt den Abend in aller Regel an vollgedeckten Tischen, wo man mit den Männern des Hauses und Nachbarn trinkt und toastet, während die Frauen einen bewirten. Erst spät gesellen sie sich dazu.
Hohe Erwartungen an den Tourismus gehen aber auch oft einher mit hohen Erwartungen an Staat und internationale Organisationen. Die Erfahrung, dass der Sowjetstaat in den letzten Bergdörfern fließend Wasser, Schulen und Büchereien zur Verfügung gestellt hat, führt heute zu einer entsprechenden Hand-auf-Mentalität, wie in so vielen postsowjetischen Ländern. Erfahrung mit Selbsthilfeorganisationen gibt es, sind aber eher bescheiden. Es gibt dennoch einige Menschen, die Pläne haben und aktiv werden wollen. Sie brauchen Unterstützung, dürfen aber nicht enttäuscht werden. Zu oft waren schon Organisationen vor Ort und haben Erhebungen wie wir gemacht. Zu oft sind diese Organisationen dann nie wieder aufgetaucht.
N. sagt, dass es traurig wird ohne uns. Natürlich sind wir ihr ans Herz gewachsen, so wie sie uns, und es ist traurig nach so kurzer Zeit wieder zu fahren. Aber sie meint vielleicht auch, dass mit uns wieder ein bisschen die Hoffnung auf Entwicklung schwindet. Ich bete daher, dass jemand Nutzen aus unserer Arbeit zieht und im Oberen Svanetien aktiv wird.

Ich trinke auf die starken svanischen Frauen wie N.,
die jeden Tag für die Zukunft Svanetiens arbeiten.
Die Kinder großziehen unter schwierigen Bedingungen
Und damit jeden Tag den Grundstein für die Zukunft legen.
Die als Lehrerinnen arbeiten und Kindern Wissen vermitteln.
Und die darüber hinaus z.B. mit uns gearbeitet haben,
weil sie für die Entwicklung in Svanetien arbeiten wollen.
Gaumarjus!
   





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