Europa oder Asien? Drei Monate in Aserbaidschan, drei Monate auf Orientierungssuche zwischen dem Erbe der Sowjetzeit, wiederauflebender islamischer Tradition, Steppenstaub, Gebirgszügen - und dem Blick nach Westen.
Geographisch ist die Frage noch relativ leicht beantwortet: Das "Land der Feuer", wie Aserbaidschan seit Urzeiten auch genannt wird, grenzt im Osten des Kaukasus ans Kaspische Meer. Der exakte Verlauf der europäischen Grenze in der Kaukasusregion ist Interpretationssache, offiziell gilt Aserbaidschan aber als asiatischer Staat. Und politisch? Kulturell? Die Brücke zwischen Europa und Asien. So sehen es die Aserbaidschaner gerne. Doch wohin gehören sie? Wohin wollen sie sich entwickeln, hin zu westlichen Systemen oder zurück zu islamischen Traditionen? Oder ist eine Mischung aus beidem möglich?
Die ewigen Feuer vor den Toren Bakus auf der Halbinsel Absheron brennen seit weit mehr als 2000 Jahren. Damals entzündete sich das an der Bodenoberfläche ausströmende Erdgas und wurde zur Pilgerstätte der Zoroastrier, die das Feuer huldigten. In ihm offenbarte sich ihnen eine höhere Macht, eine unbezwingbare natürliche Kraft, die auch den damaligen Völkern der Region nachgesagt wurde.
Die Flammen lodern noch immer, nur werden sie heute von Menschen gefüttert, künstlich am Leben gehalten. Die staatliche Gasleitung versorgt die nie erlöschenden Flammen mit Nahrung - aus eigener Kraft wären sie längst erloschen. Wie die Kultur der Zoroastrier. Und als sollte das Feuer Symbol sein für die Mentalität der Bewohner des ressourcenreichen Landes, leben auch unzählige Aserbaidschaner auf Sparflamme, reguliert von den Wünschen des Staates.
Straßenszene in der Hauptstadt Baku. (c) Anette Lilje
Wie die gesamte Geschichte Aserbaidschans so sind auch die letzten Jahrzehnte geprägt durch Unbeständigkeit und Orientierungswechsel. Anfang der 1990er trat das Land den abrupten Wechsel von einer Sowjetrepublik in die Unabhängigkeit an. Heute, nach 15 Jahren, weiß die Masse der Bevölkerung noch immer nicht, wohin sie gehört.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion ging einher mit einem Rückzug der einst hochgelobten Wissenschaft und dem reichen kulturellen Leben aus der Hauptstadt Baku. Landbevölkerung strömte mit dem Zusammenbruch der Kolchosenwirtschaft und der Hoffnung auf Einkommen in die Städte. Das kyrillische Alphabet wurde wieder durch das lateinische ersetzt, Aserbaidschanisch wieder zur Amtssprache erhoben. Alte Traditionen und der islamische Glaube leben wieder auf.
Mit der landeseigenen Sprache kann sich das Bildungsbürgertum jedoch schwer identifizieren, Aserbaidschanisch gilt als Sprache des einfachen Volkes.
Alles was der Tourist als "typisch aserbaidschanisch" empfinden mag, sei es das orientalische Lebensgefühl oder Kunsthandwerk, typisiert periphere Regionen. Diese werden von vielen Städtern aber leicht als zurückgeblieben deklariert - eine Identifizierung damit ist folglich nicht erwünscht. Gleichzeitig möchte man sich von Russland distanzieren. Studenten sehnen sich nach westlichen Strukturen, die aber noch in weiter Ferne liegen. Also Flucht nach vorne, auf nach Europa, studieren in Deutschland, arbeiten in England. Das hiesige Bild Europas hat allerdings verklärt-paradiesische Züge. Das Europa ebenso weit entfernt ist von paradiesischen Zuständen und mit unzähligen ähnlichen und noch zahlreichen anderen Problemen zu kämpfen hat, ist schwer zu vermitteln.
Die gegenwärtigen politischen Strukturen der autoritären Staatsmaschinerie gewähren wenig Handlungsfreiraum und kaum Entwicklungsmöglichkeiten. Wer das nötige Kleingeld in der Tasche hat, verschwindet ins Ausland, um die Familie von dort aus finanziell zu unterstützen, oder kauft sich einen lohnenden Arbeitsplatz. Je nach Stellung (hierarchischer und moralischer) kann das eigentliche Gehalt, das nie für den Lebensunterhalt reicht, prächtig aufgebessert werden. Je nachdem, was den Niedrigeren in der Hackordnung abzupressen ist. Freilich gibt es zahlreiche, die sich ein anderes Aserbaidschan wünschen, die für einen neuen Aufbruch kämpfen, die der Korruption trotzen. Doch das ist schwer. Als Idealist lebt man in Armut.
Auf dem Land ist die Familie noch unanfechtbarer Grundstein der Identität. Dort fühlt man den Einfluss des wiedererstarkenden schiitischen Islams, der auch ein Stück eigene Identität wiedergibt. Nach siebzig Jahren Sowjetregierung und dem Ende der planwirtschaftlichen Landwirtschaft halten sich viele Bauernfamilien mit Subsistenzwirtschaft über Wasser. Das Leben ist oft karg, aber Familie und Nachbarschaft bieten eine eigene Form von Sicherheit.
90 Prozent der schätzungsweise 2,5 Millionen Einwohner sind Aseris. Vom diesem Turkvolk leben die meisten auf iranischem Territorium. Dort gibt es vereinzelt Bestrebungen, das geteilte Volk wieder zu vereinen, in einem islamistischen Staat. Dieser Gedanke erschreckt jedoch die meisten Aserbaidschaner in der Republik Aserbaidschan. Fundamentalistische Ansichten liegen ihnen fern, gelebt wird eine sehr gemäßigte Interpretation des Islam.
In allen Bevölkerungsschichten spiegelt sich die Orientierungslosigkeit zwischen sowjetischer Sozialisation, orientalischer Mentalität und modernen Globalisierungseffekten. Weder Studenten in der Hauptstadt noch Alte im Dorf konnten mir eine befriedigende Antwort geben auf die Frage, was die Identität Aserbaidschans ausmacht. Vielen ging der Umbruch vom Sozialismus zur Marktwirtschaft viel zu schnell. Während alte sowjetische Sicherheiten wegbrachen, wuchsen kaum neue Möglichkeiten nach. Die Korruption blieb, und wer sich durch Qualifikationen außerhalb von Beziehungen und Geldgeschäften weiterentwickeln will, sieht seine Chance eben am ehesten im europäischen Ausland.
Bleibt zu hoffen, dass das Feuer, das in vielen jungen Aserbaidschanern brennt, nicht durch staatliche Regulationen erstickt wird, sondern sich ausbreitet, damit die Selbstbestimmung der Menschen in diesem Land voller natürlicher Reichtümer wieder Realität wird.