Zur aktuellen Ausgabe    
   
 
   
Abschieben unter Achtung der Menschenwürde?
POLITIK | DEBATTE (15.10.2006)
Von Michael Billig
Sie sind unter uns. Die Prognosen gehen weit auseinander. Aber es gilt als sicher, dass sie Millionen sind.

Die Rede ist von "Illegalen" in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU), also keine Außerirdischen, sondern Menschen ohne Pass und demnach ohne Rechte. Auf zehn bis 15 Millionen schätzt sie der deutsche Europa-Politiker Manfred Weber. Hinzu kommen rund 40 Millionen legale Einwanderer, auf die der griechische Abgeordnete Stavros Lambrinidis aufmerksam macht. Und seiner Meinung nach brauche Europa bis zum Jahr 2050 noch einmal 50 Millionen von ihnen, um der Überalterung in den westlichen Gesellschaften entgegen zu wirken. Doch in der aktuellen Einwanderungs- und Integrationspolitik der europäischen Staaten heißt es, dass nicht jeder überall gern gesehen ist und deswegen verstecken sich viele Menschen vor dem Zugriff der Behörden.
Wie gerufen kommen da die geflügelten Worte von Weber im Europäischen Parlament Anfang Oktober in Brüssel: "Europa ist nicht nur ein Raum des Wohlstands. Europa ist auch ein Raum des Rechts." Nichts sei schlimmer als der illegale Status eines Menschen. Das müsse sich allein schon aus humanitären aber auch aus wirtschaftlichen Gründen ändern. Dazu hat der CSU-Politiker im Rahmen seiner Tätigkeit im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres den aktuellen Entwurf zur Abschiebung von Flüchtlingen vorgestellt. Dieser soll unter Achtung der Menschenwürde europaweit Mindeststandards für eine Rückführung definieren. "Das erhöht den Druck auf die Mitgliedsstaaten der EU, einer Person das Aufenthaltsrecht und somit weitere Rechte zu gewähren oder konsequent abzuschieben", so Weber.

SOS von den Kanaren

Im Kampf gegen illegale Einwanderung fordern die meisten Parlamentarier in Brüssel die Teilung der Verantwortung und der finanziellen Belastung zwischen den Mitgliedsstaaten. Die Tragödie auf den Kanaren zeigt, dass dies bisher unerfüllt bleibt. Von knapp 3000 Todesfällen muss Martin Meniz, Präsident der Inselgruppe, im EU-Parlament berichten. "Einer von zehn stirbt, bevor er die Kanaren erreicht", so die erschreckende Bilanz. Meniz sendet SOS an Europa. Allein 900 Kinder ohne Vormund seien auf den Inseln gelandet. "Sie müssen ausgebildet werden und dazu brauchen sie einen Pass", appelliert er und betont zugleich, dass man das allein nicht schaffe.
"Die Kanaren gehören zu Spanien", lautet der unmissverständliche Hinweis von Manfred Weber. Das Land auf der iberischen Halbinsel habe ohne Rücksprache mit anderen EU-Staaten im vergangenen Jahr mehreren hunderttausend Personen beinahe über Nacht einen legalen Status verschafft. "Das hat sich herumgesprochen", begründet Weber den Ansturm auf die Kanaren. Vieles deutet daraufhin, dass die Flüchtlinge wieder nach Mauretanien, Senegal und Guinea-Bissau zurückgeführt werden - auch die erwähnten Kinder.

Würden die von Weber angestrebten Richtlinien allerdings heute schon greifen, dürfe keine Kollektivabschiebung mehr stattfinden. Erst nach einer Einzelfallprüfung, insbesondere bei minderjährigen und kranken Menschen, dürfe über die Rückführung entschieden werden. In Anbetracht von knapp 30 000 Flüchtlingen, die seit Beginn diesen Jahres auf den Kanaren gestrandet sind, keine leichte Aufgabe. Schon mit der Unterbringung sei man schlichtweg überfordert gewesen, so Meniz.
Auch der Inselstaat Malta stoße längst an die Grenzen seiner Aufnahmekapazitäten. Aus Griechenland und Italien kommen ähnliche Hiobsbotschaften. Diese Länder müssen die ersten Wellen von Flüchtlingsströmen aus Afrika auffangen. Sie fühlen sich im Stich gelassen und gehen eigene Wege während andere Regierungen in Europa lieber in Deckung gehen. Das wird auch an der Agentur FRONTEX deutlich, die gegründet wurde zur Sicherung der Außengrenzen der EU im Mittelmeer und im Atlantik, mit 66 Mitarbeitern und einem Budget von 15 Millionen Euro nur eingeschränkt tätig sein könne.

Abschiebehaft strittig

Dabei hat die Europäische Union schon vor sieben Jahren deutlich gemacht, was sie gewillt ist europaweit durchzusetzen: Familienzusammenführung bei Flüchtlingen sicherstellen, wirtschaftliche Entwicklung in den Herkunftsländern stärken und nicht zuletzt eine aktive Zuwanderungspolitik. Das bedeute nach Martin Schulz (SPD) eine Übertragung nationaler Rechte auf die EU und für die Staaten einen Souveränitätsverlust, vor dem sie zurückschrecken würden.
Auf ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang verweist der britische Abgeordnete John Denham: "Wir haben einen Teil unseres Wirtschaftswachstums auf billigen Arbeitskräften aufgebaut." So werden in Spanien Tausende illegaler Einwanderer auf Obst- und Gemüseplantagen eingesetzt. Die Bekämpfung der Schwarzarbeit sei daher unabdingbar. Aber der EU scheinen die Hände gebunden.
Auch Webers Entwurf über Mindeststandards zur Rückführung illegaler Flüchtlinge stößt trotz vielversprechender Ansätze auf Widerstände im Europa-Rat, dem Gremium, in dem die Staats- und Regierungschefs zusammen treten. Aus deutscher Sicht sei die vorgesehene Begrenzung der Abschiebehaft auf maximal ein halbes Jahr nicht akzeptabel. Zur Zeit kann in der Bundesrepublik ein "Illegaler" bei Fluchtgefahr bis zu 18 Monate festgesetzt werden. Zum Vergleich: In Frankreich und Spanien beträgt die Höchstdauer einen Monat. Denham gibt hingegen zu Bedenken, dass allein schon das Fehlen einer gemeinsamen Zuwanderungspolitik die Einführung gemeinsamer Rückführungsrichtlinien erschwere.

Manfred Weber ist dennoch optimistisch. Im Europäische Parlament herrsche weitgehend Einigkeit, dass man die Richtlinien brauche. Im Fall der Höchstdauer einer Abschiebehaft könne er sich zwölf Monate als Kompromiss vorstellen. Ab Januar 2008 soll es außerdem einen Fond geben, aus dem die Rückführungsaktionen finanziert werden. "Es wird aber kein Geld fließen, wenn die Richtlinien nicht greifen", macht Weber klar.

Weiterführende Links
http://europa.eu/agencies/community_agencies/frontex/index_de.htmEuropäische Agentur für die operative Zusammenarbeit (FRONTEX)
   








Unsere Texte nach Ressorts
GESELLSCHAFTPOLITIKKULTURREISEUMWELTWIRTSCHAFTSPORT
Ein sächsisches Dorf kann auch andersNewtons zweiter SiegWo Nachbarn zur Familie gehörenNur kein zweites KreuzviertelLiebe über den Tod hinausJede Fahrt eine DrogenfahrtEine Million Euro für die Cannabis-LobbyArmutszuwanderung? Eine Untergrunddebatte!Mails verschlüsseln leicht gemachtVerschlüsseln - eine Notlösung Soziale Demokratie geht auch ohne SPDBedingt verhandlungsbereitDas vergessene Massaker von AndischanDas Ende von Lüge und SelbstbetrugGeteiltes Volk einig im Kampf gegen IS-TerrorDie Urkatastrophe und wirDas Ende rückt immer näherNeue Regierung, neue Krisen, neue FehlerMerkels neues WirHausfotograf der deutschen Sozialdemokratie Liebeserklärung eines Linksträgers. Oder...Mit der Lizenz zum AusrastenDer beste Mann für Afghanistan"Weil sie auch nur Opfer sind"Gestatten, Gronausaurus!Missratenes PashtunenporträtDie Band LilabungalowWo Leibniz und Wagner die Schulbank drücktenHitler in der Pizza-SchachtelDie Freiheit des Radfahrens In der Wildnis vergessenStau in der FahrradhochburgMitfahrer lenken selbstÜber Wroclaw nach Lwiw - eine verrückte TourIm Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 2Im Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 1Sounds of KenyaDie 41-Euro-SündeRive Gauche vs. Rive DroiteOranje im Freudentaumel Drei Naturerlebnisse in einemDas Gegenteil von KollapsDas Gift von KöllikenDas große Pottwal-PuzzleBio bis in die letzte FaserDer WonnemonatKlimakiller sattDer Monsun - vom Quell des Lebens zum katastrophalen NaturphänomenR136a1 - Schwerer und heller als die SonneDie Rückkehr zur Wildnis Wie die Hausverwaltung GMRE ihre Mieter abzocktWachstum und BeschäftigungSo schmeckt der SommerMakler der LuxusklasseGeburtshelferinnen vom Aussterben bedrohtVersenkte Milliarden und eine verseuchte BuchtWohnungen als WareAufstieg, Krise und Fall der AtomwirtschaftDie längste Brücke Deutschlands entstehtDie Geschichte der 'Alternativlosigkeit' - Teil 2 Fußballtempel MaracanãGlanz und Niedergang der Fanclubsiley.de drückt Maschine Münster die DaumenUnsere Veranstaltungsreihe im Web TVFrankreich ist ein heißer Kandidat fürs FinaleSpanien wird den Titel verteidigenFür Deutschland ist im Halbfinale SchlussPolen hat das Zeug für eine ÜberraschungForscher, Fans und PolizeiFußball im Würgegriff der Mafia
 
Ja, auch diese Webseite verwendet Cookies. Hier erfahrt ihr alles zum Datenschutz