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Europa macht die Schotten dicht
GESELLSCHAFT | SKANDAL (15.11.2007)
Von ELIAS BIERDEL
Mit einem nie dagewesenen System aus Zäunen, Radarüberwachung, Satellitenaufklärung, militärischen Sperrzonen, Kriegsschiffen, Polizei- und Grenzschutztruppen will Europa die Zuwanderung aus den verarmten Nachbarregionen verhindern.

www.borderline-europe.de

Vor den Kanaren (c) www.borderline-europe.de

Die hochgerüstete "Flüchtlingsabwehr" nimmt immer mehr die Formen eines Krieges an - schon ist im Zusammenhang mit den Toten an den Außengrenzen von "Gefallenen" (FAZ) die Rede. Und das schaurige Wort vom "größten Massengrab Europas" in den Gewässern, die uns von Afrika trennen, wurde längst zum beiläufig gebrauchten Gemeinplatz.

Wie viele Menschen genau den Versuch der heimlichen Einreise mit dem Leben bezahlen, kann niemand sagen, denn die kleinen überfüllten Boote werden bei ihrer Abfahrt von keiner Hafenbehörde registriert - keine Passagierliste gibt Auskunft über die Identität der Reisenden auf ihrer gefährlichen Überfahrt. Einzig die holländische Menschenrechtsorganisation "United" zählt seit rund zehn Jahren all die Leichen der Erstickten, Ertrunkenen, Verdursteten vor unserer Haustüre. Auf dieser Liste sind derzeit rund 9.600 öffentlich bekannte (überwiegend aus Pressmeldungen) und bestätigte Todesfälle dokumentiert. Doch die Dunkelziffer ist hoch. Schätzungen gehen davon aus, dass rund die Hälfte der afrikanischen Migranten ihr Ziel nicht lebend erreichen. Nach Auskunft der spanischen Polizeigewerkschaft rechnen die Behörden auf den Kanaren allein für das vergangenen Jahr mit 3000 Toten.

Heimlicher Krieg gegen unerwünschte Migranten

An anderen "Frontabschnitten" der EU-Außengrenze werden ganze Familien in die Luft gesprengt: In den Minengürteln zwischen Griechenland (Europa) und der Türkei (Asien) sind nach Angaben der Vereinten Nationen in den letzten vier Jahren mindestens 263 Menschen gestorben. Auch auf dem Wasser setzt Griechenland Maßstäbe bei dem, was auch in öffentlichen Regierungsverlautbarungen immer öfter mit dem Wort "Flüchtlingsabwehr" bezeichnet wird. Dort erreicht der heimliche Krieg gegen die unerwünschten Migranten einen Grad an Unmenschlichkeit, der sich mit den Folterpraktiken von Guantanamo und Abu Ghraib messen kann: Überlebende berichten von schwersten körperlichen Misshandlungen bis hin zu Scheinhinrichtungen mit Schusswaffen, Untertauchen des Kopfes oder durch übergestülpte Plastiktüten.

Allgemein wandelt sich die Küstenwache in den "Frontstaaten" (vor allem Spanien, Italien, Malta und Griechenland) immer mehr vom Garanten für einen sicheren Verkehr auf See zum Schrecken der Bootsflüchtlinge. Ihre Einheiten haben den Auftrag, potentielle "illegale Einwanderer" in ihren meist völlig seeuntauglichen Booten zu "stoppen und zur Umkehr zu bewegen". Soldaten am Grenzzaun MelillaSelbstverständlich soll dabei keine Gewalt angewendet werden! Was das im Einzelnen bedeutet, kann sich jeder leicht selbst vorstellen: Wenn die Verzweifelten in ihren Nussschalen, seekrank und kurz vor dem Verdursten, nach einer vielleicht vier- oder fünf-tägigen (z.B. auf der Route Lybien-Malta) oder sogar mehrwöchigen (Senegal - Kanarische Inseln) Überfahrt endlich Land sehen, dann kommt ihnen ein Patrouillenboot entgegen, mit der höflich vorgetragenen "Bitte", doch lieber wieder heimzufahren...

Ganz abgesehen von den völlig offenen Fragen, in welcher Sprache mit den Passagieren kommuniziert wird, ob diese überhaupt in der Lage sind (physisch und technisch) umzukehren, ob sie über ausreichend Trinkwasser verfügen und wie sich in den nächsten Tagen wohl das Wetter entwickeln wird. Abgesehen von alledem dürfte klar sein, dass Menschen, die auf einer derart langen, gefährlichen Reise einmal soweit gekommen sind, unter keinen Umständen dorthin zurück wollen, wo sie abgefahren sind. Damit wird deutlich, dass es ohne Gewaltanwendung keine realistische Möglichkeit geben wird, sie von der Durchführung ihres Vorhabens abzubringen.

In Griechenland besorgen Paramilitärs die "Drecksarbeit"

In allen Küstenstaaten, die Zielländer von Bootsflüchtlingen sind, wurden deshalb paramilitärische Verbände aufgestellt, die dieses grausige Geschäft besorgen. In Griechenland sind es zum Beispiel 18 Sondereinsatz-Teams der Küstenwache, die - außerhalb des europäischen Rechtssystems und meist im Dunkel der Nacht - die "Drecksarbeit" machen: Boote jagen, abdrängen, zerstören und ihre Passagiere auf unbewohnten Felseninseln absetzen. Immer häufiger wird dabei auch scharf geschossen. Und im Frühjahr 2006 machte ein Vorfall kurzfristig Schlagzeilen, bei dem Beamte der griechischen Küstenwache nach Zeugenaussagen Flüchtlinge in türkischen Gewässern offensichtlich einfach ins Meer geworfen hatten - wobei mindestens zehn Menschen starben.

In anderen Regionen versucht man das Problem mit der unerwünschten Migration dadurch zu "lösen", in dem man die in Not geratenen Flüchtlinge schlicht ihrem Schicksal überlässt. Ein Beispiel aus diesem Frühjahr machte das besonders deutlich: Am 25. Mai kenterte rund 60 Meilen vor der libyschen Küste ein Flüchtlingsboot. Die 27 Passagiere retteten sich an die Seile eines Thunfischfangbeckens, das im Moment des Schiffsbruchs von dem maltesischen Schlepper "Budafel" an ihnen vorübergezogen wird. Der Kapitän meldet den Vorfall.

Bürokraten streiten um die Verantwortung

Der Reeder der "Budafel" lässt jedoch nicht zu, dass die Besatzung die Flüchtlinge an Bord nimmt, da er angeblich besorgt um seine empfindliche Ware ist (Thunfisch im Wert von rund einer Million Euro!) und die "Budafel" keinen Platz für 27 Menschen habe. Und auch die Behörden in Malta winken ab: Sie seien nicht zuständig, man möge sich an die libysche Regierung wenden. Doch dort interessiert sich niemand für die Männer, die nun bereits seit 24 Stunden in Todesangst festgeklammert auf dem schwankenden Netz sitzen. Malta stellt wiederholt klar, man werde die Schiffbrüchigen "keinesfalls aufnehmen" und bittet stattdessen "andere Länder" der Europäischen Union, sich der Verzweifelten anzunehmen. Es dauert schließlich drei Tage und drei Nächte, ehe die 27 Männer von einem italienischen Kriegsschiff an Bord genommen und nach Lampedusa gebracht werden. Dass sie ihre Tortur überlebten, während sich Bürokraten um die Verantwortung für die Gestrandeten stritten, darf getrost als Wunder bezeichnet werden.
Diesem ungeheuerlichen Vorgang widmeten nur wenige europäische Medien ihre Aufmerksamkeit. Einzig die Londoner Tageszeitung The Independent druckte am 28. Mai über die gesamte Titelseite ein Foto der Schiffbrüchigen auf dem Thunfischbehälter. Unter der Schlagzeile "Europe`s Shame" ("Europas Schande") schrieb der Italien-Korrespondent des Independant, Peter Popham: " ... das sind die letzten Schnappschüsse aus dem mörderischen Mittelmeer, jener Wasserstraße vor den südlichen Toren der Europäischen Union, von denen der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge sagt, sie seien geworden `wie der Wilde Westen, wo menschliches Leben keinen Wert mehr hat und Menschen ihrem Schicksal überlassen werden`. Bis zu 10.000 Afrikaner haben wohl bisher den Versuch, übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen, nicht überlebt. (...) Sie starben, nicht weil Hilfe unmöglich war, sondern weil niemand etwas tun wollte."

Vor den Kanaren


Wie sehr der Independant mit dieser Analyse richtig lag, sollte sich nur zwei Wochen später zeigen. Beim Treffen der EU-Innenminister in Luxemburg scheiterte Malta mit seinem Vorstoß, aus Seenot gerettete Flüchtlinge künftig auf alle 27 EU-Mitgliedsländer zu verteilen. Spanien, Italien, Frankreich aber auch kleinere Länder wandten sich gegen eine Regelung wie Malta sie wünscht: Dies würde nur noch mehr illegale Einwanderer anlocken, argumentierten sie. Auch der als Ratsvorsitzender amtierende deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble erteilte dem winzigen Inselstaat (Malta hat rund 400.000 Einwohner) eine klare Abfuhr - und ließ seinen maltesischen Amtskollegen Tonio Borg fassungslos zurück: "Ich finde es unglaublich, dass wir vor den Toren Europas eine so tragische Situation erleben und nicht genug dagegen getan wird", sagte Borg am Ende des Treffens. "Doch wenn es keine europäische Regelung gibt, dann wird Malta keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, die außerhalb seiner Hoheitsgewässer gerettet wurden." Fischtrawler oder Handelsschiffe werden nun erst recht um jedes Boot mit Schiffbrüchigen einen großen Bogen machen.
All diese Beispiele - und die Liste ließe sich beliebig verlängern - zeigen: An den EU-Außengrenzen wurde in den letzten Jahren ein Grenzregime errichtet, wie wir es uns brutaler nicht einmal in den Zeiten des Kalten Krieges in Europa hätten ausmalen können. Die Einzelheiten werden vor der Öffentlichkeit allerdings weitgehend verborgen: So haben Journalisten in den zahllosen Abschiebelagern in und um Europa grundsätzlich keinen Zutritt - und auch die Einsatzbefehle der neuen europäischen Grenzschutz-Agentur "FRONTEX", die von Warschau aus den Abwehr-Kampf organisieren soll, unterliegen höchster Geheimhaltung. Warum eigentlich?

Was tut Europa wirklich?

Offenbar handelt es sich bei dem tausendfachen, anonymen Sterben an unseren Grenzen um ein Tabuthema, dem sich die politisch Verantwortlichen nicht stellen wollen. Stattdessen wiederholen sie bei jeder Gelegenheit jenes Mantra, hinter dem sich die Abschottungspolitik gegenüber den verarmten Nachbarn seit jeher verschanzt: Europa, so die treuherzige Versicherung, tue schließlich Alles, "um Armut und Arbeitslosigkeit auch in den Herkunftsländern zu bekämpfen" (EU-Innenkommissar Franco Frattini). Doch davon kann nun wirklich keine Rede sein.

Denn in Wahrheit tut Europa vor allem Vieles, was den Menschen Afrikas in schlechtester, kolonialistischer Manier die Lebensgrundlagen systematisch raubt: EU-Agrarsubventionen zerstören dort die heimischen Märkte, im Gegenzug verhindern hohe Zölle die Einfuhr afrikanischer Produkte nach Europa. Europäische Fangflotten fischen den Einheimischen buchstäblich den letzten Happen Eiweiß aus ihren Meeren. Unsere unermessliche Gier nach Rohstoffen stürzt weite Teile des Nachbarkontinents ins Elend (Stichwort: "Ressourcen-Fluch"), ganz abgesehen von den Folgen des Klimawandels, den schließlich wir zu verantworten haben (Afrika ist an der Emission von Treibhausgasen mit nicht einmal sechs Prozent beteiligt) - doch vor allem die Einwohner der ärmsten Länder aushalten sollen. In den kommenden Jahrzehnten werden Millionen Afrikaner laut UN-Klimareport wegen der steigenden Temperaturen ohne Trinkwasser sein, weite Küstenregionen dagegen im Meer versinken. Es ist nicht im Ansatz zu erkennen, dass die reichen, entwickelten Industrienationen (das "Imperium der Schande", wie der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, diese nennt), sich ihrer Verantwortung wirklich stellen wollen. Auch der UN-Umweltgipfel in Nairobi konnte - allen Appellen zum Trotz - kaum mehr als gestammelte Lippenbekenntnisse hervorbringen.

20.06.2004Doch die da in kleinen Booten versuchen, ihren Teil vom Reichtum der Welt (und sei es auch nur als illegale Arbeitssklaven) in Europa zu erhaschen. Sind nur die Vorboten eines unausweichlichen globalen Wandels. "Botschafter der Ungerechtigkeit" nennt sie der katholische Pfarrer Herbert Leuninger, Mitbegründer von PRO ASYL und einer der zornigen alten Männer der deutschen Menschenrechtsbewegung. "Botschafter der Ungerechtigkeit" - Diese Bezeichnung sollten wir uns merken. Denn es macht deutlich, dass es bei dem verzweifelt-unbarmherzigen Versuch der Abschottung gegen Flüchtlinge möglicherweise nicht in erster Linie um ein paar tausend Zuwanderer mehr oder weniger geht. Als "gefährlich" wird vor allem jene an uns adressierte Botschaft empfunden, die in jedem der überfüllten Holzkähne unsichtbar mitreist. Sie lautet: Ihr vertreibt uns aus unserer Heimat! Weil Politiker diese unbequeme Wahrheit dem geneigten Wahlvolk nicht zumuten wollen (sie müsste ja unmittelbare Konsequenzen nach sich ziehen), lassen sie vorläufig lieber weiter Menschen mit aller Härte "abwehren".

Dieses "Massaker der großen Heuchelei" (so die französische Menschenrechtsorganisation migreurope) fordert immer mehr Opfer - und die Liste der offiziell registrierten Toten wird immer länger: 135 wurden im Mai 2007 bestätigt, im Juni waren es 154. Von den 217 Toten des Monats Juli wurden 79 im Kanal von Sizilien gezählt und mindestens 98 auf den Kanarischen Inseln. 34 Menschen verdursteten in der Sahara auf dem Weg von Niger nach Libyen, drei junge Männer erstickten in Italien in einem Lastwagen auf dem Weg nach Deutschland. Zwei Menschen wurden von der marokkanischen Grenzpolizei erschossen, als sie sich in El Ayoun einschiffen wollen. Eine junge Frau starb in Calais auf der Flucht vor der Polizei. Mindestens 243 Immigranten sind im August bei der Seefahrt über das Mittelmeer nach Europa gestorben.

privat

(c) privat

Autor Elias Bierdel ist Journalist und Gründer der Hilfsorganisation borderline-europe e.V.
   









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