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Über das ewige Talent
SPORT | 2006 (15.12.2005)
Von Philip Stallmeister
"Der Jugend gehört die Zukunft", diese Aussage gehört zu den sogenannten Allgemeinplätzen, die Fußballer und Trainer gerne von sich geben. Wenn man diese Worte ernst nimmt, dann stehen Borussia Dortmund rosige Zeiten ins Haus.

Denn die Dortmunder stellen nicht nur das momentan im Altersdurchschnitt jüngste Bundesligateam, sie haben zudem seit 26. November mit Nuri Sahin den jüngsten Bundesligatorschützen aller Zeiten in ihren Reihen. Damit gilt der gebürtige Lüdenscheider als der Hoffnungsträger für seinen Verein und die türkische Nationalmannschaft. Doch was ist, wenn Sahin nicht die Zukunft gehört, sondern er irgendwann stagniert und sein Talent nicht voll schöpft. Dann wird er wohl in der Kategorie landen, in die sein Vorgänger und Mannschaftskollege Lars Ricken gesteckt wird: "ewiges Talent".

"Ewige Talente" vornehmlich auf vorderen Positionen

Diese Bezeichnung wird von Fußballern gemeinhin als wenig schmeichelhaft aufgenommen, auch wenn sie dem Träger dieser Kategorisierung ein gewisses fußballerisches Können attestiert. In Verteidigerkreisen findet man eher selten "ewige Talente". Die unschönen Beinamen lautet da eher "die Axt" wie einst bei dem Waliser Vinnie Jones, der es dank seines Raubein-Images sogar zu Leinwandruhm (Snatch oder Bube, Dame, König, Gras) nach seiner sportlichen Karriere brachte, oder "Rambo". Der so betitelte Hansi Pflügler hätte wenigstens den Beinamen "der Ewige" verdient. Spielte der Weltmeister von 1990 doch noch mit über 40 Jahren bei der Reserve-Mannschaft seines FC Bayern.

"Ewige Talente" finden sich vornehmlich auf den vorderen Positionen einer Mannschaft. Dort sind sie zumeist für die Spielmacherposition prädestiniert. Gemeinhin haben die "ewigen Talente" in der Blüte ihrer Jugend einen Traumstart hingelegt, und damit die Hoffnung geweckt, dass dank ihrer Ballbegabung bei ihrem Verein Titel und Pokale in großer Zahl folgen würden und die Nationalmannschaft um diesen Spieler die nächste Dekade nicht mehr umhin käme. Apropos Nationalmannschaft: Für manche Akteure gilt die Etikette des "Ewigen Talents" zuweilen nur in der Länderauswahl, weil auf Vereinsebene keine oder nur wenig Klagen laut wurden. Ein Paradebeispiel hierfür ist Andreas "Andi" Möller. Der "Frankfurter Bub" wurde vereinstechnisch zwar auch von eigenen Fans aufgrund der jammernden Gesichtsgestik und der zur Arroganz neigenden Spielweise oft mit Spott bedacht, doch bei welchem Klub Möller auch auftrat, die Erfolge ließen nicht lange auf sich warten. Zwei Deutsche Meisterschaften, drei Siege im DFB-Pokal sowie der jeweils einmalige Gewinn von Champions League und Uefa-Cup sprechen für sich. Obwohl auf der langen Liste der Erfolge des 85-maligen Nationalspielers der Gewinn der Weltmeisterschaft 1990 und die Europameisterschaft von 1996 stehen, wurde ihm der ganz große Durchbruch bzw. die einmütige Annerkennung über die Leistungen im DFB-Dress versagt. Dabei zu erwähnen ist, dass an Möller vor großen internationalen Aufgaben häufig der Anspruch gestellt wurde, "Mann des Turniers" zu werden. Eine Titulatur, die ebenfalls von Offensivkräften gepachtet scheint.

Einer, der mit Andreas Möller einige Jahre das BVB-Trikot trug, gilt heute als der immer noch aktive Beweis für das "ewige Talent". Der am 10. Juli 1976 in Dortmund geborene und oben bereits erwähnte Lars Ricken hatte einen märchenhaften Start seiner Laufbahn. Im sogenannten Baby-Sturm in Personalunion mit Ibrahim Tanko (er gehört ebenfalls in die Kategorie e.T.) hatte Ricken maßgeblichen Anteil am Gewinn der Meisterschaft 1995. Als er noch nicht Mal 21 war, entschied der eingewechselte Ricken mit einem sehenswerten Lupfer zum 3:1 gegen Juventus Turin das Finale der Champions-League. Die Prognosen überschlugen sich seinerzeit, was mit Ricken noch möglich sei. Zudem im Dortmunder Kader mit Vladimir But ein weiterer hoffnungsvoller Nachwuchsmann für die Rolle im zentralen Mittelfeld parat stand. Der junge But galt sogar als "das größte Talent Europas". Doch ebenso wie bei Ricken stagnierte bei But irgendwann die Laufbahn. Die Gründe, warum ausgerechnet die Dortmunder Borussia eine ideale Brutstätte für "ewige" Talente war, sind vielfältig. Einmal ist die hervorragende Jugendarbeit zu nennen, die mehrere A-Jugendmeisterschaften Mitte der 90er-Jahre in Serie bescherte. Die jungen Spunde bekamen dann zuweilen ihre Einsatzmöglichkeiten, doch die Vereinsführung präferierte es, fertige Stars zu holen, statt die Eigengewächse zu integrieren. Dass diese Politik der Dortmunder im finanziellen Desaster endete, ist hinlänglich bekannt. Andererseits wurden die jungen Spieler somit ebenfalls Opfer der herausragenden Summen, die in Dortmund lange gezahlt wurden. Mit selbst für Fußballprofis vergleichsweise viel Geld waren die Talente nicht zu einem Vereinswechsel bereit, der ihnen in ihrer Entwicklung mitunter gut getan hätte. Sie saßen lieber auf der Bank, als anderswo Spielpraxis zu sammeln.

Philip Stallmeister

Auch ein "Ewiges Talent": Sebastian Hrubesch (r.), Neffe des "Kopfballungeheuers" und ehemaligen Nationalspielers Horst Hrubesch. Doch Sebastian Hrubesch schlug als Jungspund bei der Hammer SpVG (Verbandsliga) ein Angebot aus Wolfsburg aus und ging nach Lippstadt in die Oberliga. Dort kam er überhaupt nicht zurecht und nun tritt er in der Bezirksliga fur die Sportfreunde Bockum gegen das Leder. "Der könnte mindestens drei Ligen höher spielen, aber er braucht seine Kumpels", so ein Insider. (c) Philip Stallmeister

Fast jeder Verein hat sein "ewiges Talent"

Aber nicht nur Dortmund brachte zahlreiche "ewige Talente" hervor. Auch der Namensvetter aus Mönchengladbach erwies sich für diese Spezies als guter Nährboden. Karl-Heinz Pflipsen und Marcel Ketelaer sind dabei nur zwei Beispiele der jüngsten Vergangenheit. Bekannter ist der Fall Sebastian Deisler. Der zu Karriere-Start als "Basti-Fantasti" gefeierte gebürtige Lörracher war im Abstiegsjahr der Gladbacher, in der Saison 1998/99, einer der wenigen Gewinner. Danach ging er zu Hertha BSC. Dort zeigte er zwar bereits den Hang zur Verletzungsanfälligkeit, dennoch zeichnete sich für viele Experten hier der Weg zum absoluten Weltstar an. 2002 erfolgte die logische Konsequenz. Deisler wechselte zum deutschen Branchenprimus FC Bayern. Hier kam es nicht nur zu der für ein "ewiges Talent" üblichen Stagnation. Nein, noch viel schlimmer. Deisler konnte dem Druck nicht standhalten und er erkrankte am Burn-Out-Syndrom. Eine harte Zeit folgte für ihn. Nun hat sich der 25-Jährige wieder den Weg in die Nationalmannschaft erarbeitet. Was die Aussicht weckt, dass der Knoten bei der Weltmeisterschaft 2006 endgültig platzt. Für die "ewigen Talente" gilt nämlich die alte Fußballerweisheit "die Hoffnung stirbt zuletzt". Dass es selbst im fortgeschrittenen Alter nie zu spät ist für herausragende Spielkunst belegt Deislers Mannschaftskamerad Mehmet Scholl, der mit mittlerweile 35 seinen X-ten Frühling erlebt. Der begabte Techniker konnte zwar zahlreiche Erfolge an sein Revers heften, dennoch haftet auch ihm der Dünkel des "ewigen Talents" an. Ähnlich wie bei Möller hatte Scholl in der Nationalmannschaft meistens wenig Fortune.

Die Liste der "ewigen Talente" ist lang und kann bis in die unteren Spielklassen fortgeführt werden. Welchen Rang die "e. T.s" in den Fußballgeschichtsbüchern letztendlich einnehmen werden, ist bis zu ihrem Karriere-Ende noch in ihrer Hand. Im Gegensatz zu ausgedienten Defensiv-Kräften besitzen sie immer einen gewissen Marktwert. Gerne sind es aufstrebende Vereine wie Hannover 96 (siehe But) oder Klubs mit einem pädagogisch gesinnten Trainer wie Mainz (Otto Addo), Freiburg (Tanko und ebenfalls But) oder Werder Bremen (Lisztes), die sich eines "ewigen Talents" annehmen, in der Hoffnung, dass das einst angedeutete Potential doch noch zur vollen Entfaltung kommt. Daher geht es den ewigen Talenten noch weitaus besser als ihren engen Kollegen, den "enfants terribles". Diese Fußballergattung ist zumeist ebenfalls im offensiven Mittelfeld beheimatet. Neben Spielkunst auf dem Platz sind allerdings auch für Eskapaden außerhalb des Rasenrechtecks bekannt. Beispiele hierfür sind Paul Gascoigne, Mario Basler oder Ansgar Brinkmann.
   









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