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Von der Faszination des TV-Sports
SPORT | 2006 (15.08.2005)
Von Oliver Tappe
Es ist ein offenes Geheimnis, dass ein Großteil unserer Mitbürger mehr Stunden vor Sportübertragungen am TV verbringt als in Sporthallen, Schwimmbädern und auf Tartanbahnen. Offensichtlich geht von ihm eine unwiderstehliche Faszination aus, die vielen jedoch auf ewig verborgen bleiben wird.

Um einen Einblick in den Facettenreichtum des Couch-cum-Chips-Sports zu bekommen, bietet sich zum Einstieg die genaue Betrachtung zweier Klassiker an: auf der einen Seite der eher profane Alltags-Fußball und auf der anderen Seite die geradezu sakralen olympischen Spiele. Besonderes Augenmerk soll jedoch der hohen Schule des Fernsehsports gelten: Der Tour de France.

Das Runde muss ins Eckige

Ende der neuziger Jahre hatte sich die fußballerische Fernsehlandschaft durch Montagsspiele und Übertragungsschwemme radikal verändert. Theoretisch konnte man in manchen Wochen jeden Tag Fußball sehen: Montag abends Top-Spiel der 2. Liga, Dienstag und Mittwoch Champions-League, Donnerstag Uefa-Cup, Freitag abends wieder 2. Liga, Samstag die klassische Bundesliga-Konferenz und schließlich der Sonntag mit zwei Spielen der 1. Liga, als Aufwärmprogramm die Konferenzschaltung der 2. Liga. Die Woche hatte auf einmal Struktur, soziale Kontakte waren nicht mehr zwingend notwendig. Leute mit Premiere-Abo und Plasma-Widescreen hingegen hatten plötzlich viele neue Freunde.

Neuerdings wird der Fußball-Junkie auch in der Sommerpause nicht mehr auf Entzug gesetzt, und das liegt nicht nur an den vom lieben Herrgott großzügigerweise eingestreuten Großveranstaltungen wie Welt- oder Europameisterschaften, sondern an den sogenannten "Bundesliga-Classics" wie Highlights der Saison 93/94, den Live-Übertragungen von Nachwuchsturnieren und Prominenten-Jux-Spielen, der Erfindung von UI-Cup und Liga-Pokal sowie an der verdientermaßen gestiegenen Präsenz des Frauenfußballs. Und wenn dann mal so wirklich gar nichts los ist, wird einfach das Freundschaftsspiel Borussia Mönchengladbach gegen PSV Eindhoven übertragen.

Das Universum schrumpft zusammen auf einen Ball, der von 22 Leuten durchs Bild gekickt wird. Das ist zwar nicht immer spannend, hat aber angesichts eines müden Abends auf der Couch eine sinnstiftende Funktion. Ferner lenkt es davon ab, dass man sich in der Beziehung ohnehin nichts mehr zu sagen hat, oder im Freundeskreis die Auswahl an Gesprächsthemen ziemlich eingeschränkt ist. Wenn man unbedingt will, läßt sich die Fassade eines gesellschaftlichen Lebens aufrechterhalten, indem zum Anstoß die Eckkneipe mit dem Großbildschirm aufgesucht wird.

Interessanterweise treibt nicht der eigene Verein die Leute vor die Bildschirme - für den man schließlich ins Stadion geht und der ohnehin nicht jeden Tag im TV zu sehen ist -, sondern wirklich nur rundes Leder auf grünem Rasen. Bei aller Liebe zum Fußball stellt der begleitende Kommentar den Zuschauer auf harte Belastungsproben. Auf der einen Seite fragt man sich, was die Lieblingsfarbe des Torwarts oder die Automarke des Schiedsrichters mit dem Spiel zu tun hat, auf der anderen Seite sollte bisweilen das gesunde Sprachempfinden ausgeschaltet werden bzw. gleich der Ton. Für Liebhaber des tollkühnen Adjektiveinsatzes ist der TV-Fußball jedoch ein Quell der Inspiration: Wenn der wieselflinke Flügelstürmer, ein ungeschliffener Rohdiamant, einen blitzgescheiten Konter aus der vielbeinigen Abwehr fährt.

Ferner bekommt der Zuschauer mehr Aphorismen präsentiert als bei einer Betriebsbesichtigung in der Glückskeksfabrik. So hat der Pokal angeblich seine eigenen Gesetze, nach dem Spiel ist vor dem Spiel, und wer seine Torchancen nicht nutzt wird bestraft. Relativ neu im Floskel-Repertoire ist "das Spielfeld klein machen" - der Halbbruder des "Räume eng machen". Geradezu konfuzieske Weisheit strahlt dabei der ehemalige Fußballgott Günter Netzer mit seinen messerscharfen Spielanalysen aus: "Alles war drin, was er reingekriegt hat."

Der olympische Marathon

Zwar ist Olympia nur alle vier Jahre, kann dafür mit seinem üppigen Veranstaltungskalender den einen oder anderen Tagesablauf komplett aus der Bahn werfen. Wir reden hier aber nicht von Athen, sondern von Atlanta oder Sydney mit gepfefferter Zeitverschiebung, die wichtige Entscheidungen erst weit nach den Tagesthemen starten lässt. In der Regel führt das dazu, dass in der Morgendämmerung die erste Amtshandlung der Griff zur Fernbedienung ist, um die Highlights der Nacht nachzuholen. Doch was ist das für eine Einstellung? Andere Leute müssen auch nachts arbeiten, da heißt es Gras fressen und den Biorhythmus ignorieren, wenn es schallt: "Deutsche Medaillenhoffnung!" Und ehe man sich versieht, schaut man stundenlang Kanusport oder Judo ganz zu schweigen von Dressurreiten, obwohl einem weder Namen noch Reglement geläufig sind.

Das gleiche gibt es übrigens auch mit Schnee, dann heißt es Olympische Winterspiele und hat ebenfalls Preziosen zu bieten wie Curling oder den Hackl Schorsch. Im Allgemeinen ist Olympia mit seinem aufgeblähten Veranstaltungs- und Übertragungsprogramm mittlerweile etwas für den gelegentlichen Reinzapper. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch hoch, dass der Zuschauer mit einer solchen Strategie bei eher unspektakulären Events landet wie den Vorläufen über 200 Meter Rücken oder dem zeitlosen Klassiker 50 km Gehen. Seinen Reiz zieht Olympia außerdem aus seinen ideologischen Kontrasten: Patriotische Aufwallung bei gleichzeitiger solidarischer Volksgemeinschaft, Nationalismus Hand in Hand mit Internationalismus.

Bisweilen interessanter als die Sportveranstaltungen sind dann noch die Randgeschichten, die sich im Laufe der Olympiawochen ansammeln und mit denen von den Fernsehanstalten die Lücken im Programm gefüllt werden. Neben Homestories von ehemaligen Medaillengewinnern im Geräteturnen sind vor allem die Lebensgeschichten von exotischen Athleten aus exotischen Ländern beliebt, die im Idealfall jeden Tag barfuß 10 km zur Schule gelaufen sind oder sich scheinbar klimatisch widersinnige Sportarten ausgesucht haben. Die jamaicanischen Bobfahrer schafften es sogar bis auf die Kinoleinwände.

Der fleißige TV-Olympionike kann hier sein Telefonjoker-Wissen für die Geographie-Fragen immens aufbessern, auch wenn sich die landeskundlichen Infos bisweilen auf "kleiner Inselstaat im Pazifik" beschränken, beim Einlauf der Nationen während der endlosen Eröffnungsfeier gefühlte 50 mal gehört. So passiert es, dass der Fernsehzuschauer wacker auf irgendwelche semi-spannenden Entscheidungen wartet, während in den Studios die Moderatoren mit als "Experten" getarnten abgehalfterten Ex-Sportlern, die schon zu aktiven Zeiten keiner kannte, die Zeit vertreiben. Um dann kurz darauf womöglich vom "Geist Olympias" ergriffen zu werden, wenn der krasse Außenseiter als erster die Ziellinie überquert und glücklich auf der Tartanbahn zusammenbricht, während der vermeintliche Favorit tränenüberströmt seine Knochen aus der letzten Hürde wickelt. Glasige Augen beim Interview, "Vier Jahre darauf hingearbeitet, danke Mama!", La Ola im Stadion, Ehrenrunden mit Nationalflaggen, strahlende Sieger, faire Verlierer... Wen sowas kalt lässt, muss ein schlechter Mensch sein. Oder einfach nur müde.

Le Tour

Wenn in punkto Fernsehsport Fußball der Alltag ist und Olympia die vaterländische Pflicht, repräsentiert die Tour de France den Sommerurlaub. Sie ist die Toskana unter den Sportveranstaltungen - jede Menge Kultur, Landschaft und frische Luft. Delling und Netzer werden von Watterodt und Boßdorf abgelöst, kalte Analyse von schöngeistigem Kommentar. Die drei Wochen dauernde, mythenumrankte "Tour der Leiden" wird nicht nur sportlich diskutiert, sondern gleichzeitig von historischen und geographischen Exkursen begleitet. Mal ist das Etappenziel für seinen würzigen Ziegenkäse berühmt, mal durchqueren die Radler weltbekannte Weinanbaugebiete oder die Heimatdörfer diverser französischer Schriftsteller. Jede mittelalterliche Burgruine wird der Erwähnung wert befunden, solange das Hauptfeld (Französisch: Peloton) gemütlich und unspektakulär entlang der Loire zuckelt.

Dieses Sportevent ist jedoch nicht nur perfekt für den auf dem heimischen Sofa dahin dämmernden Geisteswissenschaftler, der dem meditativen Charme der endlosen Radelei verfallen ist, sondern auch für den Technik- und Medizin-Fan. Man erfährt unzählige technische Details zu den Rennrädern, die sie in ihrer Komplexität in die Nähe von Spionagesatelliten rücken lassen. Ferner erfährt man während stundenlanger "Passivität im Peloton" alles über Familiensituation, Musikgeschmack, Verdauungsprobleme der Radsportler und somit auch vom schweren Augenleiden der Großtante väterlicherseits des kleinen drahtigen Bergspezialisten aus Kolumbien. Des Weiteren würden viele ohne die Tour nichts von der Existenz der Farbe "magenta" ahnen, keine Ahnung von der Historie französischer Kreisverkehre haben und nicht wissen, dass im badischen Ettlingen (ja, bisweilen verirrt die Tour sich in gut zahlende Nachbarländer) alljährlich das große Zwiebelfest stattfindet. Derweil passiert sportlich gesehen für das ungeübte Auge stundenlang fast gar nichts.

Es stellt sich durchaus die Frage, ob man sowas wirklich den halben Tag durchhalten muss. Der Reiz erschließt sich auf dem ersten Blick nicht jedem. Wo die Tour doch ohnehin erst ab der zweiten Woche in den Bergen entschieden wird und es selbst dann reicht, gegen halb fünf den Fernseher anzustellen. Aber genauso wie die sportliche Leistung der Radler im Vergleich zu den Fußballern schier unmenschlich ist, wird auch dem Äquivalent auf der anderen Seite des Bildschirms einiges abverlangt und man kann zeigen, was wahre TV-Ausdauer ist: 90 Minuten Gekicke mit Halbzeitgewinnspiel... pillepalle! Fünf Stunden Flach-Etappe ohne Ausreißversuche, das ist die richtige Herausforderung für den TV-Sportler. Die Frage stellt sich natürlich: Ist das noch Zeitverschwendung, Langeweile oder bereits Zen?

Die erste Woche steht im Zeichen der Massensprints, bei denen die Anwärter auf den Etappensieg bei 60 Sachen versuchen sich gegenseitig in die Begrenzungszäune zu drängeln. Und in den Bergen von Alpen und Pyrenäen werden die Mythen und Legenden geboren, die Geschichten von Triumph und Tragik. Gerade letzteres macht den Zuschauern bang vor Entsetzen, wenn Fahrer vor lauter Erschöpfung vom Rad zu fallen drohen oder sich bei den spektakulären Abfahrten, verfolgt von ebenso lebensmüden Kamera-Mopeds, in die Böschungen stürzen. Spätestens hier werden auch Skeptiker von der Faszination der 100 Jahre alten Frankreich-Rundfahrt gefangen. Klingende Namen wie Col du Calibier und Mont Ventoux werden von den Kommentatoren mit einer solchen Ehrfurcht ins Mikro gehaucht, als radelten die Jungs geradewegs ins Lande Mordor, wo die Schatten drohen.

Wer also auf pittoreske Landschaftsaufnahmen steht und den Frankreich-Baedeker schon immer mal als Hörbuch haben wollte und sich womöglich sogar für Radfahren interessiert, sollte sich alljährlich im Juli einen Fernseher ins Büro schmuggeln.

Was bleibt als Fazit zum Fernsehsport? Wahrscheinlich gibt es kaum effizientere Methoden, seine Zeit zu verplempern oder seinen Floskel-Schatz zu erweitern. Allerdings lässt sich damit auch gelegentlich wunderbar die Rest-Welt ausblenden und das Gehirn in den Leerlauf schalten. An diesen therapeutischen Effekt wird der Live-Ticker im Internet niemals herankommen. Natürlich wird jetzt manch einer einwerfen, dass es doch auch noch Formel 1, Tennis oder Skispringen gebe, aber man muss es ja nicht übertreiben. Apropos übertreiben: Das DSF überträgt neuerdings Poker...
   






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