Länderpunkt Andorra
SPORT | GROUNDHOPPING (15.04.2005)
Von Oliver Tappe | |
Es gibt mitunter seltsame Hobbys unter der Sonne. Die Mutter aller seltsamen Hobbys ist wohl das Trainspotting: Bei Wind und Wetter stehen vermummte Gestalten an Bahngleisen und notieren die Seriennummern und Zeiten der vorbeirasenden Züge in dicke Kladden. Ein nicht nur phonetisch artverwandtes Hobby ist das sogenannte Groundhopping, das "Sammeln" von Fußballstadien in aller Welt. Groundhopper finden ihre Passion im Besuch möglichst vieler Fußballstadien, vom Emsland-Stadion in Meppen bis hin zum Aztekenstadion in Mexiko-City. Notorische Spielverderber kommen dann sofort von wegen geld- und zeitaufwendig, aber solche Kommentare hört der Groundhopper schon gar nicht mehr. Gut, es soll kritische Lebenspartner geben, doch so etwas regelt sich mit der Zeit von selbst. "Ground" bezeichnet im Fachjargon das Fußballstadion und wird "gemacht" oder "gekreuzt". Dafür gibt es dann Ground- und Länderpunkte, wobei sich die Gelehrten noch über das Regelwerk streiten. Zählt jeder Dorfschlackenplatz oder nur die Stadien der obersten vier Spielklassen? Sind für die höchste erreichbare Länderpunktzahl die 207 Mitgliedsverbände der FIFA maßgeblich? Muss für einen Groundpunkt das Spiel komplett angesehen werden, reicht eine Halbzeit oder gar eine Zigarettenlänge auf der Tribüne, ehe der Zug zum nächsten Ground genommen wird? Ernsthaft diskutiert werden diese Fragen in der 1993 gegründeten Vereinigung der Groundhopper Deutschlands, für dessen Mitgliedschaft 300 Grounds und 30 Länderpunkte per Eintrittskarte oder Stadionzeitung vorzuweisen sind. Groundhopper stehen eine Stufe über den sogenannten "Allesfahrern" unter den Fußballfans, die sämtliche Spiele ihres Vereins inklusive Testspiele in der Sommerpause besuchen. Prototypisch hier das Beispiel der ahnungslosen Melanie S. aus Ostwestfalen-Lippe, die begeistert dem Sommerurlaubvorschlag "Antalya" ihres Gatten zustimmte, nur um vor Ort festzustellen, dass im Nachbarhotel Schalke 04 sein Trainingsquartier aufgeschlagen hat und statt Tauchschule erst einmal das Testspiel Schalke gegen Antalyaspor auf dem Programm stand. Doch der Groundhopper geht noch weiter: Er löst sich für seine Fahrten von eventuell vorhandener Vereinsaffinität und wartet gar nicht erst darauf, dass ihn der UI-Cup in so pittoreske Orte wie Chisinau oder Dnjepropetrowsk verschlägt. Stattdessen düst er freitags nach Büroschluss los und schaut sich ein Spiel der dritten portugiesischen Liga an. Fährt tags darauf nach Spanien zum Spiel Rayo Vallecano gegen Recreativo Huelva. Macht am Sonntag das letzte noch fehlende Stadion im Großraum Paris, nachdem er sich auf dem Weg noch den Länderpunkt Andorra geholt hat. Und ist dann rechtzeitig am Montag wieder in Deutschland. Sowohl am Arbeitsplatz als auch abends beim Zweitligaspiel LR Ahlen gegen den 1. FC Köln. Obwohl er Dortmund-Fan ist. Am nächsten Wochenende wird sich vor dem Heimspiel im Westfalenstadion noch der Oberligaklassiker TSG Sprockhövel gegen Oer-Erkenschwick reingezogen. Das verschafft dem Geldbeutel eine Durchschnaufpause. Der Kostenaufwand ist auch ein Grund, weshalb aufstrebende Groundhopper ihre ersten Länderpunkte meist bei unseren Nachbarn in Holland und Polen sammeln. Die hohe Schule des Groundhopping ist das aber noch lange nicht. Denn um beim Groundhopping im Konzert der Großen mitgeigen zu können, reicht es nicht, entspannt nur ein Stadion pro Tag zu besuchen und sich auf den Schengen-Raum zu beschränken. Sportlichen Charakter bekommt ein Groundhopping-Tag erst, wenn ihm ein akribischer Zeitplan zugrunde liegt, der den Besuch von drei oder gar vier Spielen ermöglicht und zur wahren Herausforderung reift, wird er mit der Deutschen Bahn bestritten. Da sich beispielsweise sonntags die Anpfiffzeiten in der Regel in einem Zeitfenster zwischen 13 und 17.30 Uhr bewegen, kommt das gemütliche Pils im Bordbistro der Regionalbahn jedoch nicht in Frage. Stattdessen wird sich je nach Regelauslegung in der Halbzeitpause in den Privatwagen gestürzt und rechtzeitig zum Anpfiff des Lokalrivalen gefahren, eine Dreiviertelstunde später zum Pausentee des Clubs aus dem Nachbardorf zum parallel laufenden Spiel und schließlich der Trip ins nächste Erstligastadion... klingt kompliziert und ist stets eine logistische Meisterleistung. Zumal Spielverlegungen oder -absagen gerade im Winter ein Unsicherheitsfaktor sind und nach einem zuverlässigen Netzwerk in den jeweiligen Fußballverbänden verlangen. Geboren wurde das Groundhopping wie das Trainspotting in Großbritannien, wo Mitte der 70er Jahre der Club 92 gegründet wurde, dessen vollwertiges Mitglied man erst nach dem Besuch sämtlicher Fußballstadien der vier englischen Profi-Ligen werden kann. Der Rekord für die schnellste Groundhopperei durch alle Stadien liegt gemäß Guiness-Buch der Rekorde bei 237 Tagen. In diesem Zeitraum schaffte es das Club-Mitglied Ken Ferris während der Saison 1994/95, alle englischen Profi-Stadien bei regulären Spielen zu besuchen. Einige Groundhopper haben es bereits in der Szene zu einiger Berühmtheit gebracht - vor allem durch exotische Destinationen wie die Vereinigten Arabischen Emiraten. Solche Koryphäen distanzieren sich selbstverständlich von den Gelegenheitshüpfern, die sich von hart erkämpften Länderpunkten in erster Linie einen Zuwachs an Street-Credibility in der Kurve erhoffen: "20 Stunden Busfahrt durch die Ukraine, Hardcore!" Wer entsprechende Räuberpistolen zu schätzen weiß, sollte Samstag gegen Mittag die Regionalbahnen im Ruhrgebiet frequentieren und den Erzählungen der hibbeligen Ultras mit der Restakne lauschen. Da tauchen sie auf, die Preziosen fußballerischer Erzählkunst, über zehrende Auswärtsfahrten, krasse Choreos und Verbrüderungen mit tschechischen Hooligans. Wagemutige mit Spielplankenntnissen können noch ein wenig nachhelfen mit lässigen Fragen wie: "Fährst du auch nach Rostock?" Oder noch glaubwürdiger: "Fährst du auch Rostock?" Der wahre Goundhopper sitzt derweil unauffällig ein Abteil weiter und plant bereits die Tour fürs nächste Wochenende: Tromsö, Norwegen. Als stiller Einzelgänger ist er fast schon ein Exot in der Fanszene, und mit der Zeit nähert sich bei ihm das Interesse an Land und Leuten der Passion Fußball an, was dieses Hobby dann endgültig zur Seinserfüllung macht. Die bunte Welt des Groundhopping lässt sich geballt nachlesen im Klassiker "Abenteuer Groundhopping" von Jörg Heinisch. Dazu gibt es unzählige Websites mit Spielberichten aus aller Welt. Zu finden sind dort feinsinnige Beobachtungen zur Architektur englischer Fußballstadien, naserümpfende Kommentare zum Support in der dritten belgischen Division sowie Hinweise zur besten Kneipe in Stadionnähe. Dazu gibt es Scans der Eintrittskarten und Fotos des Grounds. Groundhopping ist in gewisser Weise die vierte Dimension des Fußballs, der sich hier über das profane "22 Männer rennen hinter einem Ball her" erhebt und in eine höhere Sinnebene transzendiert. Denn wie sagte der legendäre Bill Shankly so schön: "Some people think football is a matter of life or death but it's far more important than that." |