Mein ökonomisches Jahr
KULTUR | STUDIUM (15.09.2008)
Von Katharina Nocun | |
Das Studium zeigt mir ab und an Dinge, die ich nie zuvor gesehen habe. Nicht nur in Form von Banalitäten, wie Baföganträgen und Kopierkarten. Das, was ich lernte zu sehen, geht weit darüber hinaus. Dafür bin ich sehr dankbar, denn endlich scheint es mir so, als könnte ich durch das Studium dem Verständnis des Verhaltens der Menschheit zumindest ein Stück weit näher kommen. Nie hätte ich das für möglich gehalten, nie hätte ich dies gewagt zu hoffen. Die verschiedenen Verhaltensmuster schienen mir derart komplex und schwer verständlich zu sein, dass sie mich regelmäßig in tiefste Verwirrung zu stürzen pflegten. Ich hatte mich mit Philosophie, Psychologie, Religion und Ethik tiefgehend auseinander gesetzt und doch bin ich zu keinem Ergebnis gekommen. Egal wie ich es auch drehte und wendete. Nichts war klar und und alles verschwamm in einem Wulst aus punktuellen Deutungsmustern vor sich hin in mich hinein. Aber jetzt, ja jetzt ist alles anders für mich, denn mir scheint, als wäre ich sehend unter den Blinden, wie mein Professor immer zu sagen pflegt, und daher schrieb ich es mir auch sogleich auf, diese wunderbare Feststellung meines Vorbildes. Denn nun fühle ich auch so. Das Studium hat etwas mit mir gemacht, es hat mich verändert. Es hat mir die Augen geöffnet. Wenn man sagt, man studiere Wirtschaft, scheint es so, als wenden sich die Menschen von einem ab. Mag sein, die Wirtschaftswissenschaften haben nicht den Hauch eines Abenteuers, wie es der Archäologie oft angedichtet wird, nicht das introvertierte Genie der Mathematik, nicht die Erhabenheit der Philosophie und nicht die Kultiviertheit der Germanistik. Es klingt langweilig, es klingt nach einer Vernunftsentscheidung, wohl wahr. Und keine glanzvolle Epoche wurde dadurch tief geprägt, da weder die Griechen, noch die Römer und auch nicht die französische Revolution damit in Zusammenhang zu bringen sind. Unsere Kommilitoninnen setzten auf bewährtes mit Kragen und Perlenohrringen, anstatt modisch Rebellion zu üben und bei H&M nach sich selbst zu suchen. Wir sind allgemein wenig beliebt, wie mir scheint. Und ihr lasst mich das manchmal auch deutlich spüren. Aber ich nehme es euch schon lange nicht mehr übel, jedenfalls nicht, wenn ich länger darüber nachdenke, so wie jetzt. Ihr könnt nichts dafür, dass ihr nichts von der Ökonomie des Lebens versteht und doch Menschen wie mich braucht, ohne es zu wissen. Denn nur wir verstehen euch vollkommen. Ihr ahnt nicht, welche Wonnen es mir bereitet, nun alles in Zahlen ausdrücken zu können. Mein Leben ist endlich wieder ein Gleichgewicht, seit ich es auch herleiten kann. Alles, was der Buddhismus predigt über Ausgeglichenheit und das Nirvana, das habe ich nun verstanden. Nicht intuitiv, nein, das wäre wohl zu einfach. Ich meine anhand von Formeln und Fakten, verwoben in einem einzigen ganzheitlichen Modell. Mein Leben wurde einer Totalanalyse unterworfen. Anhand meiner ersten Vorlesung, ich denke, es war die Mikroökonomie, bildete ich die Grundlagen meiner Überlebensökonomie. Wir zeichneten eine Angebots- und Nachfragekurve und da wurde mir plötzlich klar, dass es für jedes Angebot auch eine Nachfrage gibt und sich beide irgendwo im Gleichgewicht treffen, so dass beide ein effizientes Nutzenniveau erreichen. Mir wurde warm ums Herz, als ich die Gleichung in meinem Taschenrechner zu lösen begann. Jeder Mensch hatte nun einen Berührungspunkt, wie mir schien. Auch die Effizienz sollte vielleicht einige tiefer gehende Worte an dieser Stelle verdient haben. Effizient ist etwas, wenn keine Ressourcen verschwendet werden. Ein gegebenes Ziel wird mit minimalem Aufwand erreicht oder ein maximales Ziel mit gegebenem Aufwand. So wie bei einer Klausur Abschreiben oder selber Lernen, je nach Zielvorstellung. Jedem das seine und doch muss man den Einsatz der Mittel immer im Auge behalten. Alles muss angemessen sein. Maßlosigkeit und Verschwendung haben in meinem Herzen nun keinen Platz mehr, seit dem ich dies weiß. Denn es wäre nicht effizient. Und ich möchte nicht der Verschwendung anheim fallen. Das führt nur zu gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsverlusten. Alles was ich habe, Zeit, Geld, Freunde, Interessen, Bildung. Kurzum: Mein gesamtes Kapital, auch das humane, kann ich nun auf meiner Budgetgerade einzeichnen. Immer, wenn ich mich in einem Zielkonflikt befinde, mich für und gegen etwas entscheiden zu müssen, wäge ich ab. Ich bestimme die Grenzrate der Substitution, das heißt: Wie viel mir das eine im Vergleich zum anderen wert ist. Zeit habe ich zum Beispiel viel, was ist da schon eine Stunde. Geld habe ich weniger. Daher arbeite ich seit dem 1. Semester nebenbei, denn nur so kann ich mich mehr in Richtung Gleichgewicht bewegen. Irgendwann, wenn ich genug Geld habe, ist mir vielleicht die Zeit wieder mehr wert und ich höre damit auf. Aber wer weiß das schon. Es gibt Theorien, die besagen, dass sich jedes Angebot seine Nachfrage selbst schafft. Ich fühle mich noch nicht kompetent genug, um darüber eine Aussage machen zu können. Später einmal vielleicht. Aber wer weiß das schon. Zunächst einmal bin ich viel zu sehr damit beschäftigt den homo oeconomicus im mir zu finden. Man muss die Dinge einteilen, um sie zu verstehen. Man zerlegt sie in kleine Fragmente und ordnet sie geordneten, über- und untergeordneten Kategorien zu. Das haben die großen Philosophen und Naturwissenschaftler allesamt auch gemacht und daher erschien mir der Gedanke auf Anhieb angemessen. Dinge können viel sein: Komplemente, Substitute oder Aggregate oder einfach nur ein Gut, welches dem Konsum dient. Komplemete behandele ich anders als Substitute. Ein Kommilitone sagte einmal zu mir, Drogen und Technomusik seien Komplemente. Heute stimme ich ihm zu. Ich wusste schon immer, dass da ein gewisser Zusammenhang bestand. Diese Verbindung war kein Zufall. Jetzt endlich verstehe ich. Ich, der homo oeconomicus. Die meisten meiner Freunde sind leider nur Substitute. Die ist mir erst in den letzten Monaten klar geworden. Das ist aber nicht weiter schlimm und ich will mich nicht beschweren. Jetzt, da ich dies weiß, kann ich sie austauschen ohne etwas zu vermissen. Es ist nur vernünftig und logisch, eine geradezu mustergültige "rational choice" meinerseits. Wenn ich ehrlich bin: Es hat mir mehr geholfen, als die Gesprächstherapie nach der Scheidung meiner Eltern vor fünf Jahren. Und das bedeutet mir sehr viel. Eigentlich bin ich zufrieden mit meinem Leben. Es verläuft bisher nach Plan und ich habe das Gefühl, endlich meine Umgebung zu verstehen. Nehmen wir einmal meine frühere Freundin als Beispiel, um meine Einsichten zu erläutern. Sie hatte eine eindeutige Monopolstellung in meinem Herzen. Ich hätte jeden Preis für sie gezahlt. War in meinem Bedürfnis, was Liebe angeht vollkommen unelastisch, wie wir zu sagen pflegen, und je mehr sie dahinter kam, desto mehr nutzte sie ihre Marktmacht aus. Jetzt, da ich unsere Situation in Gleichungen fassen kann, kann ich auch distanzierter darüber berichten. Sie verlangte deutlich zu viel von mir. Auf dem vollkommenen Markt wäre ich besser behandelt worden. Deutlich besser. Natürlich hätte ich meine überquellende Liebe und Zuneigung sowie all die kleinen Vertrauensbeweise und Aufmerksamkeiten meinerseits durchaus als Effizienzlohn ihr gegenüber ansehen können. Vielleicht dachte ich, angesichts all dieser Zuwendungen würde es ihr schwerer fallen, mich zu verlassen oder zu wenig in unsere Beziehung zu investieren, da sie dergleichen auf dem freien Markt nicht so schnell wiederfinden könnte. Das Shrinking hätte keine Chance gehabt und sie würde mir all das, was ich ihr entgegen brachte, in gegenseitiger Liebe zurückzahlen. Was ich bekam, kam eher einem Moral-Hazard gleich. Nach dem imaginären Vertragsabschluss unserer Beziehung erhöhte sie die Wahrscheinlichkeit meiner notwendigen Zuwendungen mutwillig in dem Wissen, dass die einmal getroffene Vereinbarung nicht so schnell rückgängig gemacht werden würde. Ich wurde zum Auffangbecken für all ihre Fehltritte und Misserfolge. Es machte mich innerlich ganz krank. Vielleicht war auch die asymmetrische Informationsverteilung zwischen uns schuld an unserer Misere gegen Ende. Ich wusste nicht, ob die Worte, die sie von sich gab, wirklich ernst gemeint waren, war immer weniger bereit zu geben. Dem entsprechend senkte sie ihre Zuneigung mir gegenüber immer weiter ab, da ihr dies wahrscheinlich nicht verborgen geblieben war. Wie konnte es auch. Wir waren ja schließlich ein Paar. Damals. Und irgendwann, da war die Qualität unserer Beziehung im Verhältnis zu den Kosten einfach bei Null angelangt. Dies nennt man "Race to the Bottom", wie ich in einem Buch las, und dies zu erfahren hat mir mehr geholfen als jeder Beziehungsratgeber. Es gibt einem die Kontrolle wieder in die Hand, wenn man Dinge benennen kann, wie es scheint. Als sie sich mit meinem besten Freund verbündete und sie ein Kartell gegen mein Bedürfnis nach Loyalität bildeten, war es bereits fast vorbei. Ich verließ beide, ihre geheimen Absprachen, auch Kollusion genannt, wurden mir zu viel. Nun hat sie wieder ein anderes Monopol und ich habe mein Gleichgewicht auf dem vollkommenen Markt meines Herzens wiedergefunden. Allein. Der Markt zwischen zwei Menschen ist nie vollkommen, das ist mir nun klar geworden. Und es gibt keine Standardisierung, keine Reputation, keine staatliche Intervention, die diese Unvollkommenheit aus dem Weg räumen könnte. Daher vergrabe ich mich lieber in meinen Büchern und verbessere meine Marktstellung, bis ich mich wieder auf den Basar der einsamen Herzen wage und mich der Nachfrage stelle. Das Studieren ist für mich dabei eine Art Aggregatzustand. Mein jetziges Dasein ist nur Mittel, um mein späteres Leben nach meinen Präferenzen leben zu können. Ich möchte genug Geld, einen sicheren Arbeitsplatz und eine passende Frau. Um dies zu erreichen, studiere ich sehr hart und zielstrebig. Denn alles hat seinen Preis. Auch im Gleichgewicht. |