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Zukunftslos?
KULTUR | KURZGESCHICHTE (15.06.2007)
Von Adeline Duvivier
Boris Vian meinte oft in seiner Jugend, er würde nie 40 Jahre alt werden. Er starb im Sommer ´59 im Alter von gerade 39 Jahren. Eines natürlichen Todes.

Einen ähnlichen Satz las ich öfter als kleines Kind und dann als Jugendliche auf einem Buchumschlag bei uns zu Hause. Und das fand ich immer sehr erschreckend. Wie konnte er schon vorher wissen, dass er dieses Alter nicht erreichen würde?
Die Zukunft ist etwas Spannendes, aber als Kind nahm ich sie anders wahr. Ich empfand sie als ein beunruhigendes Monster, das unkontrollierbar ist. Wenn ich etwas machen wollte, bekam ich oft die Antwort: "später". Aber das Später kam selten schnell. Ich glaube, manchmal ist es sogar nie gekommen.
Noch bevor ich die Grundschule verließ, wusste ich, dass ich nach dem Abitur studieren würde, um Lehrerin zu werden. Eigentlich wusste ich zwar, dass ich zur Universität gehen würde, aber danach war ein großes schwarzes Loch. Ich habe nie davon geträumt, später mit einem Ehemann, drei Kindern und einem Hund im Garten vor meinem Haus zu spielen. Dieses "Später" sollte nie eintreffen. Das wollte ich nicht, das wollte ich auch später nicht, Dafür hätte ich mich mit dem "Früher" und dem "Jetzt" auseinandersetzen sollen und ich fand es bequemer, keine Zukunft zu haben.
Ich baute von der Grundschule an mein Leben auf einem angepassten Anderssein auf. Ich bin anders, keiner weiß es. Aber später werden es alle wissen. Und da alle Menschen eine Zukunft haben, beschloss ich für mich, dass ich keine habe.
Dieser einfache Kindheitstraum ist aber schwieriger zu realisieren als gedacht. Wie könnte ich es schaffen, dass ich keine Zukunft habe? Ich kannte auch wie viele Jugendlichen eine melancholische Phase und hätte auch mich von dieser Welt verabschieden können. Aber warum denn? Ich brauchte mir nicht Mühe zu geben. Ich hatte doch schon vor langer Zeit so selbstsicher beschlossen, dass ich zur Uni gehe und danach nicht mehr existiere. Wenn es
bei Boris Vian geklappt hatte, warum denn nicht bei mir?
In der Schule belegte ich die Fächer, die keiner mochte, lernte die Sprache, die jeder hasste, trieb die Sportart, die keiner konnte und beschloss als einzige meines Freundeskreises, auf eine entfernte Universität zu gehen, und auszuziehen.
Ich entdeckte eine neue Welt, mit vielen Leuten, die wie ich sind. Die anders sind. Ich lernte andersdenkende Menschen kennen, und musste doch nicht mehr anders sein. Aber was passiert dann mit der Zukunft? Ich kann mir weiterhin nicht vorstellen, was ich aus meinem Leben "später" mache. Im Gegensatz zu den früheren Versprechen von Erwachsenen, weiß ich allerdings, dass es kommen wird. Was ist aber, wenn meine Kindheitsentscheidung doch bindend ist? Was ist, wenn ich tatsächlich keine Zukunft habe?
Viele werden mir jetzt sagen, ich hätte es auch besser wissen sollen und nicht so leichtsinnig über mein Leben entscheiden sollen. Aber ich war doch nur ein Kind, ich konnte es ja nicht wissen...
Ich stehe vor meinem ersten Staatsexamen; in drei Monaten bin ich fertig und Lehrerin. Klar muss ich noch das Referendariat ablegen, aber erst "später", dafür habe ich noch Zeit. Durch mehrere Fachwechsel, einen Umzug in ein neues Land und mein langes Studieren habe ich mir schon ein paar Lebensjahre erkämpft. Für nächstes Jahr habe ich einen Job, aber eben
nicht als Lehrerin. Aber danach?
Ich komme mir wie eine Kranke mit Todesurteil vor. Die Ärzte sagen ihr, sie habe nur noch drei Monate zu leben, erfinden aber im zweiten Monat eine lebensverlängernde Therapie und sie bekommt wieder drei Monate Lebenszeit.
Mein "Todesurteil" habe ich mir mit Zirka zehn Jahren selbst gefällt. Und in den letzten Jahren war ich eine richtige Lebenskünstlerin und mein Spezialgebiet war das Verschieben der Zukunft. Aber irgendwann werde ich doch den Sprung machen müssen. In ein paar Monaten bin ich fertig mit dem Studium und muss meiner Zukunft in die Augen schauen, sie vertreiben und davon überzeugen, dass ich früher ja nur ein Kind war und nicht wusste,
was ich wollte. Ich will immer noch kein angepasstes Haus mit Garten und Hund. Aber vielleicht will ich mich einfach von meiner Zukunft überraschen lassen.
Und wenn sie in drei Monaten an meiner Tür klopft, wie der Tod mit der Sense
bei der todkranken Patientin, dann sage ich ihr einfach: "später" ...
   



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