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Berlin am Tage der deutschen Einheit
GESELLSCHAFT | HAUPTSTADT (15.10.2006)
Von Ulrike Marx
Ich sitze ganz außen auf einer splitterkantigen Bierbank. Umkippeln kann ich nicht, denn die Masse meiner Sitznachbarn hält sie in der Waage. Vor mir steht ein weißes geriffeltes Plastikschälchen mit rutschhemmendem Griffrand.

Darin wölbt sich ein Berg chinesischer Bratnudeln, toppiert mit dänischen Röstzwiebeln und einer schräg abstehenden, elfenbeinweißen Plastikgabel, deren Zinken hier und da schon mal nachgeben, werden sie durch ein Möhrenscheibchen gedrängt. Wie immer hat beim Zutun der Chilisoße der Übermut regiert, doch der Ärger darüber und die abgelösten Mundschleim- hautfetzen lassen sich mühelos mit Berliner Kindl hinunterspülen.
Um mich herum scharen sich Menschen jeden Alters, welche scheinbar jahrelang weder Nahrung, Alkohol, noch Tageslicht oder gar andere Menschen gesehen haben. Angestrengt, aber kontinuierlich in einem fort weitermampfend, pflegen sie scheue Blickkontakte über die Tische hinweg, doch ab der vierten Sekunde wird wieder ins Glas geschaut. Von der Bühne, einige Meter von uns entfernt, krächzen zwei echt schnieke Berliner Kerle ihre Raps in unbestimmbarer Tonlage ins Mikrofon. Gern würde ich mit Möhrenstückchen werfen, doch derer hat's leider nicht so viele, als dass ich es mir erlauben könnte, dermaßen verschwenderisch damit umzugehen. In Europa verhungern schließlich immer noch Kinder. Nach ihrem letzten, allerletzten, das-ist-jetzt-aber-wirklich-unser-letzter-Song-Leute-Song jumpen sie endlich von der Stage, Motherfucker yeah! Ist keiner der Anwesenden reiferen Semesters empört? ...naja, wahrscheinlich hatten die Jungs `ne echt schwere Kindheit. Es sei ihnen verziehen. Als nächsten "Act" begrüßen wir mit einem tosenden Applaus Jessica und Tiffany. "Frauen: Haltet eure Männer fest und wundert euch nicht, dass sie so lange brauchen, um neues Kindl ranzuschaffen... harhar, glucks, röchel, Augenzwinker!"
Als Jessi und Tiffy nach fünf Minuten trotz Ankündigung immer noch nicht auf der Bühne stehen, der Moderator süffisant die Stimmung am Kochen zu halten versucht und meine fernöstliche Plastikschüssel eh leer ist, beschließe ich, mich zu erheben und diesem Schauspiel den Rücken zu kehren. Die Bank schnippt nicht nach oben, obwohl sie physikalisch einwandfrei doch müsste. Schließlich sind die Mägen meiner werten Sitznachbarn in der letzten halben Stunde um ein paar Bratwürschte reicher geworden. Wahrscheinlich wurde sie ebenso festgetackert wie ihre Leidensgenossinen die Wachstischdecke und die Plastikefeugirlande.
Auf dem Weg nach draußen kann ich noch im Augenwinkel Jessica und Tiffany hinter der Bühne erspähen, die von ihren Stringtangas gekniept werden. Wer leiden will, ist nicht mal unbedingt schön, stelle ich fest und verschwinde hinter der Absperrung, um mich schon bald am peruanischen Schmuckstand zu tummeln.
   












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