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Anbauen und Abliefern - Der Wandel in deutschen Kleingärten
WIRTSCHAFT | GARTENKULTUR (15.09.2005)
Von Marcus Häußler †
Im thüringischen Weimar zwischen den Trabantenstädten West und Nord liegt der Kleingartenverein "Stadtblick". Im Süden von Eisenbahngleisen begrenzt, erstrecken sich die fast 150 Parzellen bis zu den fünfstöckigen Häusern des Neubaugebiets.

Ein breiter Weg mit Kieselsteinen führt durch das geschmiedete Eisentor in die Anlage. Es ist ruhig, die Vögel zwitschern und kein Mensch ist zu sehen. Formgleiche Grundstücke reihen sich dicht an dicht. Nur durch die Farben der Blumen und die Art der Gartenzäune scheinen sie sich voneinander abzuheben.

"Ein bisschen Grün braucht doch jeder", ruft mir ein älterer Mann zu. Vor einer Gartentür stehend, deutet er einladend auf das knapp 400 Quadratmeter große Gelände inmitten der Anlage. Er schiebt sein Fahrrad bis zum Ende des Plattenwegs und lehnt es an einen orangefarbenen Ranunkelstrauch. Rechts und links des Weges wuchern gelbe und grüne Staudenpflanzen zu einem Spalier. Reihen aus Kartoffeln, Zwiebeln und Salat verlaufen beidseitig parallel bis zur Grundstückgrenze. Der Schrebergarten sieht trotz des üppigen Bewuchses und des nächtlichen Regens aufgeräumt und gepflegt aus. Fast so, als gehöre alles einer höheren Ordnung an. Nicht ohne Stolz berichtet der 77-jährige Rainer Weisshaupt von der Pflege, die er seinen Pflanzungen angedeihen lässt.

Über 40 Jahre erntet der Rentner hier schon Obst und Gemüse. Seit dem Frühruhestand ist er fast täglich hier und hat seine Anbaufläche auf zwei Drittel ausgebaut. Den Rest bedecken ein Häuschen und eine kleine Gänseblumenwiese. Die weißgetünchte Gartenlaube stammt aus sozialistischen Zeiten. Sie versprüht den Charme idyllischer Betagtheit und reiht sich damit perfekt in die Fassade der umliegenden Grundstücke. "Seit der Wende hat sich hier kaum etwas verändert. Gärten sind nicht dazugekommen. Nur ein paar Pächter haben gewechselt", verrät der Kleingärtner mit Blick auf seine Nachbarn. Dort bestellt seit diesem Jahr eine junge Familie die Beete. Außer am Wochenende und an Feiertagen sind die jungen Anrainer jedoch nicht auf dem Acker. An eine aufkommende Mode für Kleingärten glaubt der Gartenfreund Weisshaupt daher nicht.

Thomas Wagner vom Bundesverband Deutscher Gartenfreunde e.V. (BDG) untergräbt die Vermutung des Kleingärtners: "Die Menge an Kleingärten in Deutschland liegt zwar seit Jahren relativ konstant bei einer Million. Vier mal so viele Menschen nutzen aber tatsächlich diese Grundstücke. Und es werden mehr. Auffallend ist, dass das Durchschnittsalter der Pächter vom Jahr 1997 bis 2003 um zehn auf 47 Jahre gesunken ist. Die eigentliche Veränderung in den Kleingartenvereinen besteht in deren Verjüngung". Einen erheblichen Unterschied in der Gartennutzung benennt er im Verhältnis der Alten zu den Neuen Bundesländern. Allein ein Viertel aller deutschen Kleingärten liegen in Sachsen. Auf dem Gebiet der Alten Länder ist dagegen nur etwa ein Drittel aller Flure verteilt. Ein Grund hierfür scheint die niedrigere Eigenheimdichte Ostdeutschlands im Vergleich zum gesamten Bundesgebiet. Nur jeder Dritte Ostdeutsche wohnt in seinem Eigenheim wohingegen fast die Hälfte aller westdeutschen Bundesbürger unter dem eigenen Dach lebt. "Und ein Eigenheim mit benachbarter Anpflanzung macht einen Garten oft überflüssig", gesteht der BDG - Mitarbeiter, der selbst kein organisierter Kleingärtner ist.

Das Paradies für Gartenfreunde befand sich also in der DDR. Laut offizieller Statistik der Abteilung Landwirtschaft im Zentralkomitee des Landes zählten die Kleingartenvereine der Republik 1988 über 1,2 Millionen Mitglieder und circa 855 000 Pachteinheiten. Der Kleingarten komplettierte mit dem Betrieb und der Familie das sozialistische Lebensgefühl und genoss staatliche Förderung. Volkseigene Betriebe unterhielten Gartenanlagen für ihre Arbeiter. Massenorganisationen wie der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) wurden mit der Organisation der Kleingartenvereine betraut. Das behördliche Wohlwollen ging soweit, Gartenbauer dazu aufzurufen, einen Anteil ihrer Ernte an die Annahmestellen der Kaufhallen zu schaffen. So konnte das saisonale Angebot an heimischen Früchten aufgebessert werden.

"Anbauen und Abliefern hieß damals unsere Parole", erinnert sich Rainer Weisshaupt. Vom Kirschbaum, der früher in seinem Garten stand, trug er eimerweise Früchte zur Annahmestelle der Handelsorganisation HO. 1990 versuchte er das letzte Mal das rote Kernobst in Geld umzumünzen. Vor einem nahegelegenen Supermarkt bot er seine Ware feil, bis der Chef des Markts ihn mit Geldforderungen verscheuchte. Bis heute erntet der Kleingärtner auf seinem Grund nur noch für sich selbst und seine Frau.
   




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