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Wie ein Stein
KULTUR | HAUPTSTADT (15.05.2005)
Von Michaela Bochus
Ich war wohl etwa fünfzehn Jahre alt, saß in der mittelkleinen Stadt auf einem Balkon und war beschäftigt mit den ersten Gedanken zur allgemeinen Endlichkeit, als ich die Grausamkeit der Unendlichkeit sah - ganz deutlich, ganz klar:

Eine reine lichte Wand - nur ein paar Schatten verdunkelten das leuchtende Weiß. In ihrer Mitte hing ein Stein, unbeweglich und starr. Die Erdanziehung wirkte nicht nachhaltig auf ihn, eine Schnur hielt ihn, ließ ihn niemals los. Der Stein hing so sicher, so einsam, so steif und so öd.
Selbst wenn die Schnur doch einmal reißen sollte, und er lebendig würde und zu fliegen begänne, hielte ihn immer irgendetwas auf und bald schon würde er wieder an die Wand gehängt oder möglicherweise auch an eine andere, die noch größer, noch weißer und viel gerader ist. Vielleicht wird auch die Schnur eine Neue sein - fester, unsichtbarer etwas höher oder tiefer angebracht. Es muss sich ja rechnen - die Existenz eines Steines ist eine komplizierte Rechenaufgabe. Wie es sich für einen richtigen Stein gehört, wird er nie gegen diesen Rhythmus, von dem er ja nicht einmal weiß, wer ihn vorgibt, ankämpfen - niemals. Er ist ja so alt und erfahren und denkt keine Gedanken mehr. Das tun andere. Und die jungen Steine? Die hängen unwissend und schwer an den Wänden, die von Jahrhundert zu Jahrhundert immer schöner werden, denn auch Steine werden anspruchsvoller. Sie kennen es nicht anders und vertrauen dem Nichts. Träume und Hoffnungen haben sie nicht. Wie auch? Sie haben ja keine Ahnung, was das ist.
Und unsere Welt verteidigt ihre Regeln, wir wollen die Muster und Raster. Chaos und Unruhe würde ohne diese entstehen, unsere Kommunikationsfähigkeit würde enthebelt. Wir können nicht so weit sehen, darum haben wir Angst. Eigentlich sehen wir nur unser Grab. Das Dazwischen scheint flach und unbewohnt.

Ich glaube, ungefähr damals begegnete ich auch einem Speckstein, der wanderte trotzdem durch die Welt und suchte einen Specksteinkünstler. Ich begegnete diesem Klumpen von einem hellgrauen, weiß gesprenkelten Speckstein zum ersten Mal nach diesem lichten Erlebnis auf dem elterlichen Balkon zur Weihnachtszeit - noch lange vor seinem großen Gang aus der Provinz in die große Stadt. Oft dachte ich daran, mich selbst im Schnitzen und Schleifen und Formen zu versuchen, doch irgendetwas Unentschlossenheit hielt mich zurück. Ich versuchte sein Inneres zu verstehen, um seine Form erkennen und nach außen tragen zu können. Fragte ihm virtuose Löcher in die steinige Fassade. Doch immer wenn ich ihm spürbar nahe kam, entzog er sich mir, und ich blieb ratlos sitzen vor seiner ungeformten Fülle. Wieder und wieder bat ich ihn, mir seine Geschichte zu erzählen. Doch er betonte jedes Mal, es tue nichts zur Sache, woher er käme, und was er bisher erlebt hat - auf uns käme es an und das Jetzt. Ich erklärte ihm die Schwierigkeiten, ihn zu erkennen ohne dieses Wissen, doch er schüttelte nur ungeduldig seine weißen Punkte durcheinander. Eines Tages erzählte ich ihm von meinem Entschluss, bald in diese große Stadt zu gehen. Dies weckte wohl seine Neugier, und er fragte nunmehr seinerseits Löcher in meine zarte Membranhaut.

Darum fühlte ich mich wohl auch so verantwortlich, als er wenige Tage nach mir die große Stadt betrat - konnte er sich doch kaum an all die vorangegangenen und gewiss mühsamen Stationen seiner Reise erinnern. Warum sonst wollte er mir nichts davon erzählen? Ich bildete mir ein, dass vor allem meine Idee ihn hierher gelockt hatte. Zu meiner unsinnigen Erleichterung betonte er gleich ein heimatliches Gefühl, das einem Ankommen und Finden gleichkam, ohne dass zunächst etwas Konkretes geschah und genau dieses Empfinden konnte ich sehr gut nachvollziehen. Künstler würde es hier jedenfalls zur Genüge geben. Auch Specksteinkünstler. Aber wo, also wohin? Letztlich fällt die Entscheidung doch immer aus sich selbst heraus und plumpst wieder in sich selbst hinein. Der ersehnte Künstler ließ auf sich warten, er tauchte einfach nicht auf - egal wo der vergessliche Speckstein auch nachschaute. Schnell bemerkte er, dass es nicht so einfach ist, in diesen Ausmaßen den Überblick zu behalten.

Als ich ihm unter diesen Umständen wieder begegnete, und er mir sein Leid schilderte - erzählte ich ihm von einer Begegnung im Bierhimmel, einer anständigen Kneipe von sozialem Ruf und setzte nach einigen Überlegen eine Anzeige in ein Stadtmagazin: +++Ich suche dich! Specksteinmagier und Lebenskünstler aus dem Bierhimmel. Ein Batzen unverformter Specksteinmasse wollen beschnitzt, beschleift, in Form gebracht werden. Motiv noch unbekannt, Inhalt will rausgefunden werden+++ Es war ein Montagmorgen und der Redaktionsschluss drohte ? Als ich sie dann gedruckt sah, spürte ich die Missverständlichkeit - Irrwege einer Anzeige! Zum Glück konnte der Speckstein unsere Sprache nicht lesen, sonst wäre er wohl getürmt vor lauter Schreck.
Wenig später stand der Künstler vor mir mit seinem Fahrrad, dessen Nummernschild zu seiner Freude die Polizei ärgerte, ohne wirklich verboten zu sein - eine Art Gesetzeslücke. Am Lenker die Handwärmer, von seiner Mutter aus alten Goratex -Jacken genäht, sind kunterbunte Ideenwunder - genau wie all die großen und kleinen Specksteine umhüllt von Socken und Strümpfen, in seinem Rucksack verstaut. Er holt, wenn er einen öffentlichen Raum betritt, zunächst immer nur einen heraus. Wo auch immer er sich niederlässt, arbeitet er an ihm, bis ihn jemand anspricht und nachfragt, was er da macht. Noch so eine Gesetzeslücke: Nun kann die Vorführung ohne Ärgernis wegen unerlaubten kaufmännischen Handelns beginnen - ein wahrer Specksteinschatz enthüllt sich da plötzlich vor den Augen der Neugierigen. Er arbeitet auch auf Bestellung, aber die Leute geben heute kaum Geld für Kunst aus, das ist zumindest seine Erfahrung. Doch Aufgeben ist keine Variante, die Teil seiner Lebensqualität ist. Der Kohle-Ofen in seiner Wohnung steht neben wenig Geld auch für eine Art Freiheit, die ihm wichtig ist.
Auch diesmal hat der Specksteinkünstler wieder diesen ernsthaften Blick, der mir erzählt, dass ein Speckstein nie fertig ist, man findet immer noch etwas zu schleifen, zu verändern. So ist das mit der Kunst. Ich frage ihn, ob er immer noch so eine Antipathie gegen diesen namhaften Maler hat, der in der großen Stadt sein Unwesen treibt, sich Situationskünstler nennt und seit seiner Berühmtheit und Reichtum nur noch Unsinn produziert. Von Schaffen kann keine Rede sein. Der Meister winkt ab, ich nehme wehmütig aber hoffnungsvoll Abschied von dem Speckstein und die beiden verschwinden im Schattenspiel der Straßenlaternen. Seither ist der Speckstein bei ihm. Ab und an gehe ich erfolglos in den Bierhimmel, denn ich bin neugierig und der Magier hat selbstverständlich kein Telefon.

Es vergingen einige Jahre, bis ich eines Tages das Arbeitszimmer eines reichen Menschen betrat, dem ich eine Geschichte verkaufen wollte. Oder wollte er von mir eine verkaufen? Ich weiß es nicht mehr, denn das Geschäft kam nicht zustande. Jedenfalls: Ein abgestaubter dunkler Schreibtisch stand vor mir - nur ein paar Schatten erhellten das düstere Braun. In seiner Mitte lag ein Stein. Unbeweglich und starr hielt er einen vergoldeten Stift umklammert. Eine Funktion hält ihn, lässt ihn nicht mehr los. Der Stein steht so sicher, so einsam, so steif und so öd. Selbst wenn der Tisch einmal zu eng wird, er springen und rollen sollte, lebendig wird und zu fliegen beginnt, hält ihn immer irgendetwas auf und bald schon wird er wieder auf dem Schreibtisch stehen oder möglicherweise auch auf einem anderen, der noch größer, noch brauner und viel gerader ist. Vielleicht wird auch der Mensch neu sein - fester, unsichtbarer. Es muss ja etwas bringen - auch die Existenz eines Steines ist eine komplizierte Rechenaufgabe. Wie es sich für einen richtigen Stein gehört, wird er nie gegen diesen Rhythmus ankämpfen - niemals. Er ist ja so alt und erfahren und denkt keine Gedanken mehr. Das tun andere. Und die jungen Steine? Die gehen manchmal auf Reisen unwissend und hoffnungsvoll in Städte, die von Jahrhundert zu Jahrhundert immer größer werden, doch auch Steine werden ruhiger. Sie lernen es nicht anders und vertrauen dem Nichts.

An diesem Tag scheint die Sonne, trockene Luft wirbelte mir Staub in die Augen, die zu tränen beginnen. Ich weine über den vermeintlichen Verlust, über Irrtümer und Endlichkeiten dieser Welt und bin doch glücklich in der großen Stadt. Ein lächelndes Weinen nehme ich mit in die U-Bahn und schlängle mich mit all den anderen durch diese seltsame Welt voller Regeln, und denke mir, vielleicht hatte ich ja doch einfach nur geliebt.
   





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