Zur aktuellen Ausgabe    
   
 
   
Schattenlinien
KULTUR | HAUPTSTADT (15.07.2005)
Von Michaela Bochus
Manchmal befinden sich die normalsten Menschen an den seltsamsten Orten und manchmal an den normalsten Orten die seltsamsten Menschen.

"Verdammt ist das kalt hier, echt arschkalt!" Weder der Junge noch sein Aufzug passen zu dem Flughafen, auf dem wir uns mitten in der Nacht befinden. Eine mittelgroße Sporttasche, jedoch scheinbar fast leer überm Arm, einen weißen Lederfußball unterm Arm. Er ist jung, etwa auf dieser Schattenlinie zwischen Kind und Erwachsensein, zwischen Schule und Beruf, zwischen Traum und Wirklichkeit ...
"Wissen Sie, wo der Bus in die Stadt reinfährt? Es fährt doch noch einer ...?" Ich zucke die Achseln. Er liest zappelnd die Pläne, während ein Bus in der leeren Nacht erscheint und vor uns stoppt. "Ah, da kommt einer, aber der fährt doch sonst wohin. Fragen wir den Busfahrer, der wirds doch wissen." Der Junge ist schnell, entschlossen und nervös. Ich warte und lausche. "Das ist nicht der richtige. Da will ich doch nicht hin, aber es kommt noch einer - da vorne irgendwo. Wo noch mal genau?" Der Busfahrer schaut ungeduldig von seiner Höhe auf ihn hinab: "Einfach ein Stück weiter hinten!" Der Junge zappelt weiter: "Und Sie sind sicher, dass da noch einer fährt. ok, ok ... Irgendwo da vorne." Ich habe die ganze Zeit mit all meinem Gepäck danebengestanden, zugeschaut, wie er in den Bus hüpfte, wieder raussprang und wieder halb rein, sah ihn zurückzucken vor der Ungeduld des Befragten. Nun setze ich mich mechanisch in Bewegung in die angezeigte Richtung, der Junge mal ein Stück vor mir, mal ein Stück neben mir und dann wieder hinterher. Ein paar hundert Meter weit spüre ich seine unruhige Nähe, dann sind wir da, einige Leute stehen bereits und warten. Ich frage mich, wer sie wohl sind, ob sie auch alle mit meinem Flugzeug vorhin gelandet waren: ein genervtes älteres Ehepaar, die bald vor sich hinschimpfend um meinen Rucksack kreisen, eine kleine dunkelhaarige Frau mit Rollkoffer und ein weiterer Schattenlinien-Junge. Was uns zu einer Gruppe macht, ist vor allem die Tatsache, dass wir kein Taxi auf der anderen Seite genommen hatten, sondern hier auf einen Bus warten, von dem wir bis vor kurzem noch nicht mal wussten, ob er überhaupt noch fährt. Mein vermeintlich im Weg stehender Rucksack spielt Blitzableiter für eine zerrüttete Ehe und der Junge von vorhin spielt abseits mit seinem Fußball. Dribblings auf engsten Raum, er schafft eine Menge von diesen Dingern, für mich sind schon drei oder vier eine Herausforderung. Meine Gedanken gehen wieder eigene Wege, sein Gepäck sieht nicht nach Urlaub, nicht mal nach einer Kurzreise aus, unser Flugzeug war das letzte gelandete, die letzte Abflugzeit davor liegt schon zwei Stunden zurück, aber wenigstens fährt noch ein Bus bis zum Zoo und von da aus wird sich schon ein passender Nachtbus finden ...

Tegel ist innerhalb und außerhalb der Stadt zugleich, das haben Flughäfen wohl so an sich. Der Bus-fahrer hat freundlich meinen viel zu großen Geldschein gewechselt und lenkt die fast leere dunkle Autobahn entlang, biegt in hellere aber noch leerere Stadtstraßen. Wenn wir jetzt liegen bleiben, ich hätte keine Ahnung, aber man bleibt eigentlich so gut wie nie einfach liegen in Berlin - vielleicht genau darum. Der Junge sitzt hinter mir, dreht den Ball in seinen Händen, murmelt und summt ein Lied vor sich hin. Auf Dauer würde er mich auch nervös machen, befürchte ich, aber ich lächle, auch meine Schattenlinie liegt nicht so lange zurück, und ich kann mich noch sehr gut an die Unruhe erinnern, die diese Zeit bestimmte. Plötzlich hält der Bus in dieser tiefschlafenden Gegend und ein Mann mittleren Alters steigt ein, mit der Schattenlinie hat er längst nichts mehr zu tun, wenn er überhaupt je eine bewusst überschreiten durfte. Bei manchen Menschen verschwimmt einfach ihr Kindsein so sehr, dass sie in ihrer Ausstrahlung einfach nur düster werden. Er setzt sich nach hinten, ganz nach hinten. Im Vorbeigehen streifte mein Blick nur sein Gesicht, vor allem die dunkle Starrheit bleibt mir in Erinnerung.

In meinem Rücken wird es völlig ruhig gleichzeitig mit einem gezischten "Mist!". Ich glaube, vor allem die Ruhe lässt mich über die Schulter blicken. Der Junge sitzt sprungbereit in seiner Bank vom star-ren Blick des dunklen Mannes umfangen. Steif und langsam steht er auf, Tasche und Ball wirken jetzt wie eine Behinderung, plötzlich zu Fremdkörpern gewordene Lebensbestandteile, die er dennoch krampfhaft festhält. Auch an der Tür ist kein Zappeln mehr zu erkennen. Dann geht alles blitzschnell: Der Bus hält, die Tür geht auf, der Junge springt mit einem Satz nach draußen, hinten um den Bus herum, rennt über die Straße, in eine Seitenstraße hinein, kurz bevor sich die Bustüren wieder schließen, springt der Mann von der Rückbank auf, hinaus auf die Straße und rennt exakt denselben Weg wie eben vor zwei Sekunden der Junge mit seiner baumelnden Tasche und dem Fußball unterm Arm. Dieser ist bereits um die Ecke gebogen und verschwunden. Der Bus fährt an und weiter in die Nacht. Entsetzt bleibe ich zurück, frage mich ernsthaft, ob ich schon träume. Natürlich hätte ich sofort den Bus stoppen müssen? Um Hilfe rufen ...? Warum nur fällt es so schwer, sich in das Leben anderer Menschen einzumischen.
   






Unsere Texte nach Ressorts
GESELLSCHAFTPOLITIKKULTURREISEUMWELTWIRTSCHAFTSPORT
Ein sächsisches Dorf kann auch andersNewtons zweiter SiegWo Nachbarn zur Familie gehörenNur kein zweites KreuzviertelLiebe über den Tod hinausJede Fahrt eine DrogenfahrtEine Million Euro für die Cannabis-LobbyArmutszuwanderung? Eine Untergrunddebatte!Mails verschlüsseln leicht gemachtVerschlüsseln - eine Notlösung Soziale Demokratie geht auch ohne SPDBedingt verhandlungsbereitDas vergessene Massaker von AndischanDas Ende von Lüge und SelbstbetrugGeteiltes Volk einig im Kampf gegen IS-TerrorDie Urkatastrophe und wirDas Ende rückt immer näherNeue Regierung, neue Krisen, neue FehlerMerkels neues WirHausfotograf der deutschen Sozialdemokratie Liebeserklärung eines Linksträgers. Oder...Mit der Lizenz zum AusrastenDer beste Mann für Afghanistan"Weil sie auch nur Opfer sind"Gestatten, Gronausaurus!Missratenes PashtunenporträtDie Band LilabungalowWo Leibniz und Wagner die Schulbank drücktenHitler in der Pizza-SchachtelDie Freiheit des Radfahrens In der Wildnis vergessenStau in der FahrradhochburgMitfahrer lenken selbstÜber Wroclaw nach Lwiw - eine verrückte TourIm Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 2Im Frühjahr durch den Norden Polens - Teil 1Sounds of KenyaDie 41-Euro-SündeRive Gauche vs. Rive DroiteOranje im Freudentaumel Drei Naturerlebnisse in einemDas Gegenteil von KollapsDas Gift von KöllikenDas große Pottwal-PuzzleBio bis in die letzte FaserDer WonnemonatKlimakiller sattDer Monsun - vom Quell des Lebens zum katastrophalen NaturphänomenR136a1 - Schwerer und heller als die SonneDie Rückkehr zur Wildnis Wie die Hausverwaltung GMRE ihre Mieter abzocktWachstum und BeschäftigungSo schmeckt der SommerMakler der LuxusklasseGeburtshelferinnen vom Aussterben bedrohtVersenkte Milliarden und eine verseuchte BuchtWohnungen als WareAufstieg, Krise und Fall der AtomwirtschaftDie längste Brücke Deutschlands entstehtDie Geschichte der 'Alternativlosigkeit' - Teil 2 Fußballtempel MaracanãGlanz und Niedergang der Fanclubsiley.de drückt Maschine Münster die DaumenUnsere Veranstaltungsreihe im Web TVFrankreich ist ein heißer Kandidat fürs FinaleSpanien wird den Titel verteidigenFür Deutschland ist im Halbfinale SchlussPolen hat das Zeug für eine ÜberraschungForscher, Fans und PolizeiFußball im Würgegriff der Mafia
 
Ja, auch diese Webseite verwendet Cookies. Hier erfahrt ihr alles zum Datenschutz