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... jedes Mal eine kleine Reise durch Berlin
REISE | HAUPTSTADT (15.01.2005)
Von Matthias Pietsch
Es ist Samstagabend. Schon vor einigen Stunden hat sich die Stadt von der winterlich tief stehenden Sonne verabschiedet und trotzt nun mit ihrem nimmermüden künstlichen Licht der kalten Dunkelheit. Es wird Zeit, mich auf den Weg zu machen.

Als ich am Vormittag nach auswärtigem Schlafen in meine Wohnung zurückgekehrt war, stach mir das rot blinkende Lämpchen meines Anrufbeantworters ins Auge. Nicht lange fähig, dieser Aufforderung standzuhalten, vernahm ich kurze Zeit darauf die konservierte Stimme einer Freundin, die mich zu einer Party an diesem Abend einlud. Ich verspürte Interesse daran, denn es sollte die Veranstaltung einer allenfalls halblegalen Flüchtlingshilfegruppe werden, der ich einen guten Zweck zuordnen konnte und die mit einem bunt gemischten Publikum einigen Erlebnisreichtum erwarten ließ.

Irgendwann im Laufe des Tages folgte die kurze, aber unvermeidliche Überlegung, wie denn nun am sinnvollsten vom nordöstlichen Prenzlauer Berg in die südwestliche Ecke von Kreuzberg zu gelangen sei. Dabei galt es das Wissen um eine der häufigen Baustellen zu berücksichtigen, die sich wie so oft auf eben der S-Bahnstrecke befand, welche die günstigste Verbindung zu meinem Ziel darstellte. Kurzum, nach einem Blick in den Stadtplan, den vermutlich nahezu jeder Berliner besitzt und meistens auch mit sich führt, war mein Weg zur Party festgelegt. Als vermeintlich schnellste Verbindung kam eine Umfahrung des Stadtzentrums über den östlichen Ring mit Straßen- und S-Bahn heraus und damit eine bevorstehende "Anreise" mit zweimaligem Umsteigen, die eine gute dreiviertel Stunde in Anspruch zu nehmen versprach. Dieser letztere, der städtischen Normalität entsprechende Umstand, der hinsichtlich manch anderer Unternehmung nicht gerade antriebsfördernd wirkt, war mir heute durchaus recht. Weckte er doch die Vorfreude auf das schöne Gefühl, ohne Eile unterwegs zu sein in dem deutschlandweit wohl größten urbanen Universum, wo sich an diesem klassischen Samstagabend sicherlich unzählige Menschen mit vielen unterschiedlichen Vorhaben im öffentlichen Nahverkehr fortbewegen würden.

Bereits die Straßenbahn, mit der ich zwei Stationen bis zur S-Bahnhaltestelle Greifswalder Straße zu fahren habe, ist zum Bersten mit Menschen gefüllt. Schnell stecke ich deshalb das Kleingeld, das ich mir gerade noch für den Fahrscheinautomat besorgt habe, wieder ein, denn es scheint mir kaum der Mühe wert, mich für die kurze Strecke bis zu selbigem durchzuarbeiten. Als, kaum dass die Türen sich hinter mir geschlossen haben, der Ruf "Die Fahrscheine bitte!" ertönt, rumort es unwillkürlich in meinem Bauch und einen Sekundenbruchteil später versuche ich meine Entfernung bis zu der Stelle abzuschätzen, an der ich den Kontrolleur vermute. Denn diese halte ich für ausschlaggebend, ob ich es wohl bis zur nächsten Haltestelle schaffen werde, bevor mich jener an meinem Hoffnung spendenden Stehplatz an der Tür erreicht. Ein im Stimmengewirr kaum auszumachendes Gelächter lässt mich sodann jedoch ahnen, dass das Ganze nur ein Scherz war. Und als die Menschen trotz meines unauffälligen, prüfenden Blickes auch kein Spalier bilden, atme ich auf und fahre schließlich unbehelligt die zwei Stationen durch.

In der S-Bahn finde ich schnell einen Platz und fast genauso schnell wird mir nun bewusst, dass etwas anders ist als an gewöhnlichen Wochentagen. Auch hier sind wesentlich mehr Menschen als sonst unterwegs. Doch vor allem die Zusammensetzung des Publikums samt diesem selbst wirkt verändert. Sieht man normalerweise vorwiegend Leute, welche lediglich die Dauer ihres regelmäßigen Weges auszuharren scheinen und dabei entweder in ein Buch oder abwesend mit leerem Blick ins Nichts starren, werde ich heute einer aufgeweckteren Stimmung gewahr. Ist zuzugestehen, dass auch üblicherweise eine breite Palette von Menschen U-Bahn und S-Bahn bevölkert, die sich durch die Vielfarbigkeit unterschiedlicher sozialer, kultureller und sprachlicher Herkunft und nicht zuletzt durch die verschiedensten, nur schwer zu erratenden Fahrtenzwecke auszeichnet, so durchdringt an diesem Samstagabend darüber hinaus eine besondere, jugendliche Fröhlichkeit die Atmosphäre der Waggons. Fast scheint es, als stünden die meisten Leute in Erwartung einer gemeinsamen Unternehmung, eines gemeinsamen Loslassens von den individuellen Sorgen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das Vorhandensein auffällig vieler Gruppen, welche die freudige Aufgeregtheit ihrer einzelnen mehr oder minder herausgeputzten Mitglieder dynamisieren, wobei die Ausgelassenheit, ohne dass man ihren Ursprung bestimmen könnte, sich von Gruppe zu Gruppe fortpflanzt und nur vor wenigen Halt macht. Verbindliche Blicke werden gewechselt, wo gewöhnlich vor allem das dumpfe Nebeneinander der Verschiedenheiten regiert. Keineswegs unterbrochen wird die solchermaßen gehobene Stimmung durch den stetigen Wechsel der ein- und aussteigenden Fahrgastgruppen. Während die Bahn auf ihrer langen Teilstrecke eine ganze Reihe der teilweise höchst unterschiedlichen, sich an die Mitte von Berlin anschmiegenden östlichen und westlichen Stadtbezirke wenigstens tangiert, wenn nicht gar durchquert, verbinden sich an jeder Haltestelle die Energien von drinnen und draußen mit dem Öffnen der Türen. Menschengruppen steigen zu, bringen ihrerseits neue Angestacheltheit bereichernd mit herein oder lassen sich von der vorherrschenden aufgeweckten Stimmung erfassen. Andere Gruppen steigen aus und verteilen lauter als sonst ihre positive Unruhe über die Bahnsteige.

Beschwingt und leicht aufgeputscht komme ich nach nochmaligem Umsteigen an der Zielhaltestelle und kurz danach auf der Party an. Nur sacht eingebettet in ihren wohltätigen Zweck wird es für die annähernd zweihundert Gäste eine bunte, amüsante und ausgelassene, sich aber nicht sonderlich in die Erinnerung eingrabende Veranstaltung, bei der jeder entsprechend seiner Laune und gemäß seinen Fähigkeiten durch Gespräche, beim Tanzen, Lachen oder Trinken auf seine Kosten kommt. Als zu fortgeschrittener Stunde die sich lichtenden Reihen in dem großen, vormals die Heimstatt irgendeines Betriebes gewesenen Raum das bevorstehende Ende der Party ankündigen, durchdringen langsam die obligatorischen Gedanken an die Heimfahrt mein eingelulltes Gemüt. Dank des Hinweises einer routinierten Berlinfahrerin befinde ich mich alsbald in kalter Nacht auf dem richtigen Weg zu einer U-Bahn, die auch zu dieser Zeit noch ihren Dienst unter der Stadt tut. An der nächstliegenden Haltestelle angekommen, zeigt sich, dass es für ihren Betrieb auch jetzt noch einen guten Grund gibt. Denn die beträchtliche Anzahl der wartenden Menschen zeugt kaum von der nachtschlafenden Zeit.

Auf der Rückreise werde ich weiterer der mannigfaltigen, nie gänzlich zu erfassenden Facetten der Stadt ansichtig. Müde Menschen, die nur noch an ihr Bett denken und einige andere, für die diese Fahrt lediglich eine Verbindung zum nächsten wochenendlichen Spaß bedeutet, beobachten, ohne direkt hinzusehen, vier Hereinkommende, mit einem Stereorekorder und der daraus gedämpft dröhnenden immergleichen Musik bewaffnete Punks, die ein freies Abteil belegen, in ihrer Welt schwelgend und scheinbar bereit, den Angriff eines jeden, der sie in ihrer Fasson stören sollte, rüde zu retournieren. Nach bereits zwei Stationen verlassen die Vier die Bahn wieder, ohne irgendjemand auch nur eines Blickes gewürdigt zu haben. Der damit korrelierenden, lautlos schreienden Nichtbeachtung der Mehrheit der übrigen Insassen ist dadurch jedoch keineswegs die Nahrung entzogen, denn einer der vielen Obdachlosen, die tagtäglich mit auswendig gelernten, scheinbar unaufdringlich wirkenden Sätzen eine Zeitung an den Mann beziehungsweise die Frau zu bringen versuchen oder alternativ um eine Spende bitten, betritt kurz darauf die Bahn. Doch im Vergleich zu jenen beschriebenen, die auch ich zugegebenermaßen zu übersehen pflege, weckt dieser mit einer orangefarbenen Weste, wie sie normalerweise Gleisarbeiter tragen und speckigem Hut Bekleidete meine besondere Aufmerksamkeit. Denn während er seinen Gang durch den Waggon startet, wirbt er auf außergewöhnliche, weil originelle Art und Weise für eine kleine Spende, indem er, gleich einer Nachahmung der Unsitten uns allzeit umgebenden Reklamegebarens, heute Sonder-"angebote" geltend macht. Da er sicherlich nicht der einzige sei, der uns (Anwesende) heute schon nach Geld gefragt oder uns irgendetwas habe verkaufen wollen, möchte er niemanden über Gebühr behelligen. Es müsse zu dieser späten Stunde kein Euro sein, auch fünfzig Cent, zwanzig Cent, ja fünf Cent würden ihm helfen. Anerkennendes Schmunzeln macht sich in meinem Gesicht breit, das weiter zunimmt, als sich der trotz seines Werbens erfolglose Mann in etwa sechs Meter Entfernung zu mir auf einer Seitenbank niederlässt und in Plauderton an alle gewendet mit der Erzählung seiner nächsten Versuche beginnt. Dabei fällt mir auf, dass er das städtische Streckensystem vermutlich wie kaum ein Zweiter beherrscht. Während der Mann darüber spricht, welche nächstliegenden Verkehrsknotenpunkte er auf welchem Weg ansteuern könnte, blickt er immer wieder nach Aufmerksamkeit Ausschau haltend in die Runde und fragt schließlich, wie wir die Erfolgsaussichten seiner Vorhaben bewerteten. Und er bekommt Aufmerksamkeit, auch wenn sie sich nicht in Antworten niederschlägt, sondern im Zuhören, begleitet von verschämten Blicken. Als der Mann es dann mit einem anderen Thema vergeblich versucht hat, stellt er, in sich hineinseufzend, die direkte Frage, warum denn keiner mit ihm spreche. Was solle denn aus der Welt werden, wenn die Menschen schon nicht mehr miteinander sprechen.

Staunend schauen die anderen Fahrgäste dem unerwartet Treffsicheren hinterher, als er an der nächsten Haltestelle die Bahn verlässt. Mit dem Bewusstsein, wieder einmal unversehens in den Besitz eines geschenkten, schönen Erlebnisses geraten zu sein, bestreite ich wenig später der Kälte lachend meinen restlichen Heimweg. Wie anderswo sieht man auch in Berlin die berührendsten Ereignisse eben meist am Wegesrand geschehen. Und es geschehen viele ...
   







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