Der Plan
KULTUR | KURZGESCHICHTE (15.02.2006)
Von Jörg Rostek | |
Einreihen, vorzeigen, einsteigen. Wie die anderen. Er wählte einen Platz gegenüber den hinteren verglasten vollautomatischen Ausstiegstüren. Busimpression (c) Jörg Rostek Kaum hatte das Gefährt nahezu fünfzig Meter zurückgelegt, als er abermals aufblickte und Blässe sein Gesicht zu überziehen begann. Plötzlich fand er sich auf gleicher Höhe zu einer ältere Dame, vielleicht um die siebzig Jahre alt, die einen Stock in beiden Händen hielt. Ihr Gesicht war von Verzweiflung und Hilflosigkeit verzerrt. Sie tastete sich am Rand eines Gestänges entlang, hinter dem ein Meer von Fahrrädern aufgereiht war. Sie hatte wohl, den richtigen Weg suchend nicht die rechte sichere Seite, den Gehweg gewählt, sondern war, unabsichtlich, auf die, zur Hauptstraße gelegene Stangenseite geraten. Hinter ihr standen, wie eine silberne Mauer die aufgereihten Fahrräder. Der Fahrtwind der vorbeibrausenden Autos verwirbelte ihr hochgestecktes Haar und wiederholt zuckte sie verschreckt zusammen. Da war ein Mensch der Hilfe brauchte. Eine alte blinde Frau. Niemand außer ihm schien sie bemerkt zu haben. Wenn er nicht allein gewesen wäre, wenn er sich umschauend ein weiteres Augenpaar gesehen hätte, das wie er diese erschütternde Szene wahrgenommen hätte, ja dann, vielleicht, wäre er aufgesprungen, hätte vielleicht sogar die Scheibe eingeschlagen, damit der Bus anhält. Doch der Bus fuhr von ruhiger Hand gesteuert, zeitliniengerade, seinem Bestimmungsort entgegen. Kurz dachte er daran um Hilfe zu rufen und je weiter sich der Bus von der blinden Frau entfernte desto stärker wuchs und wuchs der Wunsch in ihm zu schreien. Er blickte wieder in sein Buch. Versuchte die Wortketten in sein Bewusstsein eindringen zu lassen, doch es wollte nicht gelingen. Er hob seinen Blick und starrte auf vorbeiziehenden Beton. Der Bus erreichte die nächste Haltestelle. Ganz nach Plan und pünktlich. |