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Der schnellste Letzte
KULTUR | KURZGESCHICHTE (15.06.2006)
Von Jörg Rostek
Als ich noch ein kleiner Junge war, erlebte ich folgendes:

es war während des Sportunterrichts. Nachdem wir unser Straßenkleidung aus- und unsere Sportkleidung angezogen hatten, gingen wir, die Klasse 9b, zusammen mit dem Lehrer, auf den Sportplatz. So groß und breit wie ein geläufiger Fußballplatz, war er von einer Aschenbahn umgeben, auf dem wir regelmäßig, um uns in Form zu halten, zweieinhalb Runden laufen mussten - manchmal sogar mehr. Mein Sportlehrer überließ es regelmäßig uns, ob wir diese Strecke, die vielen meiner etwas dickeren Klassenkameraden Sorgen bereitete, zu Beginn oder am Schluss der Stunde laufen wollten. Meist taten wir dies am Ende.

Aber diesmal hatten wir nicht die Wahl. Diesmal sprach unser Lehrer, Herr Stegelmüller, den wir aufgrund von Gerüchten, es hieß, er sei lange Zeit bei der Bundeswehr gewesen, auch "Endstation Stegelmüller" nannten, in klaren und deutlichen Worten zu uns, heute würden wir anders laufen als sonst. Heute seien die Regeln anders.

Er teilte uns in Gruppen zu je fünf Schülern ein. Er meinte, dass nun nicht der schnellste Läufer gewinnen sollte, sondern die schnellste Gruppe - und zwar als Ganzes. Diejenige Gruppe, deren langsamster Läufer nach zweieinhalb Runden die Ziellinie am schnellsten überquerte, sollte der Sieger sein.

Ich war entsetzt, denn nachdem ich mir die Gruppe, in die ich geraten war, genau betrachtet hatte, und ich kannte die sportlichen Fähigkeiten meiner Mitschüler sehr gut, waren wir nicht schon mehrere Jahre in ein und derselben Klasse gewesen, musste ich feststellen, dass ich, was meiner Fettleibigkeit verschuldet war, der Letzte sein würde. Da ich wusste, dass mich meine Gruppe für ein schlechtes Laufergebnis verantwortlich machen würde, verlor mein Gesicht Farbe.


Nacheinander liefen wir los. Zuerst Gruppe eins, dann Gruppe zwei, und immer so weiter. Ich war in der letzten Gruppe.

Mit mir in der Gruppe war Björn. Björn hatte mich schon in der Grundschule regelmäßig verhauen. Doch ich hatte es ihm jedes Mal verziehen, da ich wusste, dass er in einem Kinderheim aufgewachsen war, was dazu führte, dass die anderen nichts mit ihm zu tun haben wollten.

Dann kam unsere Gruppe an die Reihe und wir liefen los. Die anderen hatten sich bereits abgesetzt und ich war wie immer weit zurückgefallen. Bereits nach der ersten Runde spürte ich meinen Körper, dass er mich wieder Mal im Stich ließ, und ich wusste, dass da nichts mehr zu holen war.

Und während ich mich schwitzend und schnaubend die Bahn entlang schleppte, sah ich, dass Björn stehen geblieben war. Bald war ich auf gleicher Höhe mit ihm. Das war das erste Mal, dass ich ihn überholte. Als es soweit war, nahm er seinen Lauf wieder auf, bis wir uns auf gleicher Höhe befanden. In dem Moment hatten wir bereits zwei Runden hinter uns, die anderen drei hatten bereits die Ziellinie überquert. Es waren also nur noch zweihundert Meter zu bewältigen.

Dann streckte Björn seine Hand aus. Er streckte seine linke Hand aus und umfasste die meine. "Und nun lauf", sagte er, das weiß ich noch ganz genau, "nun lauf einfach."

Björn zog und ich rannte. Ich musste rennen. Am Anfang stolperte ich noch, aber weil Björns Entschlossenheit sich auf mich übertrug, vergaß ich mich selbst. Schon waren wir über der Ziellinie.

Zwar brauchte ich eine Woche, um mich von dem Sprint zu erholen. Und Björn hat, obwohl er mir half, seine Haltung mir gegenüber, nie geändert. Wir bekamen auch keinen Preis oder etwas Ähnliches. Aber an diesem Tag hatte unsere Gruppe gewonnen. Und ich, ja ich war der schnellste Letzte.
   





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