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Abzug der letzten sowjetischen Truppen aus Afghanistan und Fall der Mauer
POLITIK | VERDRÄNGTER ZUSAMMENHANG (22.10.2009)
Von Christian Sigrist †
Die 20-Jahr-Feiern zur „Wende“ steigern die Mythologisierung der „friedlichen Revolution“ – der Bundespräsident behauptete auf dem Festakt zur Leipziger Montagsdemonstration am 9.10.1989, Panzer hätten vor der Stadt gestanden, Blutplasma und Leichensäcke hätten bereitgelegen.

Das Präsidialamt räumte inzwischen die Möglichkeit eines Irrtums ein, nachdem der MDR die nicht korrekte Aussage nachrecherchiert hatte. Der Historiker Michael Richter distanzierte sich von seinen eigenen früheren Aussagen, die auf Gerüchten und unbestätigten Berichten basierten, und räumte die Notwendigkeit einer gründlichen Nachforschung ein.

In der aktuellen Publikation „Friedliche Revolution 1989/90 in Sachsen“ (Atlas zur Geschichte der Landeskunde von Sachsen, Beiheft zur Karte D V3), an der Richter mitgewirkt hat, ist von solchen Berichten nicht die Rede. Hartmut Zwarh zitiert eine Rede vom 21.10.1989, in der der DDR-Innenminister Dickel begründet, warum der Einsatz von Panzern gegen die Demonstranten nicht angeordnet werden konnte.

Unsicherheit durch Perestroika und Glasnost

In diesem Zusammenhang wird von Zwarh auf die Verunsicherung der bezirklichen Sicherheitsverantwortlichen, von der Dickel sprach, hingewiesen. Sowohl aufseiten der SED und der Sicherheitsorgane wie aufseiten der Demonstranten bestand Unsicherheit über die Wahrscheinlichkeit eines massiven Gewalteinsatzes der Staatsmacht. Offensichtlich warteten die „Organe“ auf klare Einsatzbefehle. Ihr Ausbleiben ist die Folge einer mehrjährigen Verunsicherung durch Perestroika und Glasnost. Jahrzehntelang gab die sowjetische Führung die Linie der SED-Politik vor. Gorbatschows Politik führte zum Bruch dieser kontinuierlichen Außenorientierung.
Einen bedeutenden Beitrag zur Verunsicherung bedeutete die Umorientierung der sowjetischen Afghanistanpolitik: Am Ende der seit 1982 laufenden Genfer Verhandlungen im Palais des Nations über den „Abzug der ausländischen Truppen“, die am 14.4.1988 zu den Genfer Protokollen führten, war die militärisch-politische Niederlage der Sowjetunion besiegelt. Schon zuvor hatte der Mythos der Unbesiegbarkeit der Sowjetarmee so gelitten, dass der Erfolg von Solidarnosz in Polen nicht verhindert werden konnte und die Liberalisierungspolitik der ungarischen KP keine Rücksicht auf sowjetische Interventionen nehmen musste.

Aus der Fotostrecke: Afghanistan 1991
Das Scheitern des „begrenzten Kontingents“ legte die Schwachstellen des scheinbar effektiven Militärsystems in erschreckender Weise offen. Es wies die gleichen Strukturfehler wie das Wirtschaftssystem auf: Versorgungsmängel, Kommandowirtschaft und Korruption. Krankenschwestern mussten aus ihren Heimatkliniken chirurgische Instrumente und Medikamente besorgen. Die Mannschaften überfielen Läden und afghanische Lastwagen, um ihren Lebensmittelbedarf zu decken. Der von beiden Seiten brutal geführte Krieg war von den Soldaten ohne Haschisch nicht zu überstehen, dafür wurden Waffen und Kfz-Teile verkauft.

Swetlana Alexijewitsch hat in ihrem Buch „Zinkjungen“ (deutsche Ausgabe 1992) den anfänglichen Idealismus der „Internationalisten“ und ihre hohe Einsatzbereitschaft, zugleich aber auch das Leiden der Schwerverletzten und der Hinterbliebenen dargestellt. Die unzureichende posttraumatische Behandlung der Heimkehrer, die fehlende Anerkennung ihres Einsatzes, führten zu einer Demoralisierung, die im Baltikum anfänglich auf Friedhöfen zu den ersten Demonstrationen nach dem 2.Weltkrieg führte.
Gegen den innenpolitischen Einsatz von NVA etc. sprach nicht zuletzt die durch den Afghanistan-Krieg ausgelöste Weigerung Gorbatschows , die 400.000 in der DDR stationierten sowjetischen Truppen zur Stützung des DDR-Regimes einzusetzen.

Revolution oder letzte Sequenz eines Systemuntergangs

Christoph Hein hatte sich schon am 4.11.1989 auf der Kundgebung am Alexanderplatz zu dem Vorschlag verstiegen, Leipziger Ortsschilder mit „Heldenstadt Leipzig“ zu beschriften (Zwarh, S. 16). Den Demonstranten in Plauen, Leipzig, Berlin und anderen Städten soll keineswegs mutiges Verhalten abgesprochen werden. Es stellt sich aber die Frage, ob es sich wirklich um eine Revolution oder nicht vielmehr um die letzte Sequenz eines Systemzusammenbruchs gehandelt hat. Die Rede von der „friedlichen Revolution“ verwässert und verharmlost den Revolutionsbegriff. Sie unterschlägt, dass der Systemzusammenbruch im Sowjetblock und die Ablösung der SED-Diktatur zu diesem Zeitpunkt nur ermöglicht wurde durch den Widerstand der afghanischen Völker, die bis 1989 mehr als 1 Million Tote zu beklagen hatten.

Aus der Fotostrecke: 20-Jahr-Feier
Zum Vergleich : Trotz teilweise brutalen Vorgehens der „Organe“ (Knüppeleinsätze und „Zuführungen“) gab es bei der Wende nicht einen Toten. Die von den Friedensaktivisten wegen ihres Opportunismus kritisierten Pastoren und Bischöfe trugen dazu bei, dass die Proteste nicht wirklich Barrikadenniveau erreichten. Und aufseiten der „Organe“ war gerade durch die Uneinheitlichkeit der Protestformen die Bereitschaft gewachsen, Verstand und Vernunft walten zu lassen und ein Blutbad zu vermeiden, auch wenn dadurch der Sicherheitsaufwand der vergangenen Jahrzehnte im Nachhinein ad absurdum geführt wurde.

Köhler hüllt Mantel des Schweigens über Afghanistan

Angesichts der sentimentalen Passagen in Köhlers Leipziger Rede fällt die peinliche Amnesie besonders auf: Die Bedeutung Afghanistans für die Auflösung des Sowjetsystems wird keines Wortes gewürdigt, es bleibt bei einem Dank für Glasnost und Perestroika. Das Bundeswehrdesaster in Afghanistan passt wohl auch nicht in die Feiertagseuphorie.
Die Wochenzeitung Das Parlament hält es in seiner dem Mauerfall gewidmeten Ausgabe vom 12./19. Okt. 2009 ebenfalls nicht für nötig, den Zusammenhang zwischen der sowjetischen Niederlage in Afghanistan und dem Anwachsen der antisowjetischen Bewegungen in Osteuropa und deren Ausläufern in der DDR herzustellen. In Gesprächen mit vielen Afghanen stellte ich eine verhaltene Enttäuschung über das Vergessen dieses Zusammenhangs fest. Dankbarkeit von deutscher Seite hat von ihnen ohnehin niemand erwartet.
   






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