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Die Frau, die weltweit Schweigen bricht
POLITIK | AUS STOCKHOLM (20.12.2008)
Von Sarah Khalil
Die US-Journalistin Amy Goodman zeigt, dass ein erfolgreiches Nachrichtenprogramm jenseits des Mainstreams möglich ist. Dafür wurde sie jüngst mit dem "Alternativen Nobelpreis" geehrt.

Der Zuschauerplatz ist nichts für Amy Goodman. Während der Übergabe der Right Livelihood Awards in Stockholm fühlte sich die hagere Journalistin dort selbst als Ehrengast unwohl. Nur für die Minuten ihrer Dankesrede konnte sie sich von der Arbeit am Laptop losreißen. Die Arbeit ruft – jeden Tag mindestens von 7 Uhr morgens bis Mitternacht. Da macht ein Event im Stockholmer Parlament keine Ausnahme.

Ihre tägliche Nachrichtensendung Democracy Now! ging über den Äther, als sie 1991 über die Unabhängigkeitskämpfe in Osttimor berichtete und dabei fast ihr Leben verlor. Sie berichtete 1998 von Zusammenstößen zwischen der nigerianischen Armee und Bewohnern, bei der zwei Menschen umkamen. Und natürlich erzählen sie und ihr Team der Welt auch vom Alternativen Nobelpreis und dessen GewinnerInnen. Am 8. Dezember, dem Tag der Verleihung, portraitierte sie die drei Mitausgezeichneten in ihrem einstündigen Magazin. Das war schon gelaufen, als Goodman bei der Übergabezeremonie saß. Also musste sie weiterarbeiten.

Man mag diese Frau besessen nennen und hat damit vermutlich nicht ganz unrecht. Doch, wer sie einmal hat sprechen hören, zweifelt nicht mehr am Sinn ihrer Mission, die sie selbst so beschreibt: „Die Rolle der Medien ist es, dorthin zu gehen, wo das Schweigen ist, und etwas zu sagen.“ Diese Orte können weit weg sein, wie Haiti, Osttimor, Nigeria und Peru, von wo aus sie über Geschehnisse berichtete, die vom Mainstream ignoriert wurden.

Festgenommen beim Parteitag der Republikaner

Sie können sich aber auch vor ihrer Haustür befinden, wie Goodman in diesem Jahr beim Besuch des Parteitags der Republikaner feststellen musste: Zwei Produzenten von Democracy Now! wurden am ersten Tag des Treffens in St. Paul/Minnesota inhaftiert, als sie über die Proteste auf den Straßen berichten wollten. „Ich rannte von der Halle der Versammlung, um für deren Freilassung zu bitten, und wurde selbst inhaftiert“, erzählt Goodman in ihrer Dankesrede einem zunehmend entsetzten Publikum. „Meine Kollegen wurden bei der Verhaftung verletzt. Ich kann noch immer den Schmerz dort fühlen, wo der Polizeibeamte die Plastikhandschellen absichtlich zu eng schnallte.“ Sie lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Tag für sie ein weiterer Schritt im Sündenfall der amerikanischen Demokratie ist. „Die Botschaft war klar: Versuche, engagierten, authentischen und disziplinierten Journalismus zu betreiben, und du wirst geschlagen, festgenommen und deiner Presseakkreditierung beraubt.“

Doch Amy Goodman wäre nicht sie selbst, hätte sie dieser Angriff nicht darin bestärkt, an diesem Thema dran zu bleiben. Ihre Verhaftung wurde gefilmt und löste einen wahren Aufstand unter den anwesenden Journalisten aus. Auf Youtube war das Video ihrer Inhaftierung in der Woche das meistabgerufene der USA. Für Goodman ist dies ein Beispiel dafür, dass ihre Mobilisierungstaktik funktioniert. Doch es brauchte Wochen und die gemeinsamen Anstrengungen von Zehntausenden, um die Stadt dazu zu bringen, die Anschuldigungen gegen sie fallen zu lassen. Denn im amerikanischen Polizei- und Justizsystem hat sie einen mächtigen, geradezu kaltschnäuzigen Gegner. „Am Tag nach unserer Inhaftierung konfrontierte ich den Chef der Polizeistation in St. Paul mit diesen Ereignissen. Er antwortete, dass er eingebetteten Reportern in den mobilen Einsatzkräften einen besonderen Zugang gegeben hätte“, berichtete sie angewidert. Embedded Journalism – diese Form des parteiischen, behüteten und von den Behörden beeinflussten Journalismus ist das, wogegen Amy Goodman mit ihrer Sendung kämpft. Für ihr Gegenkonzept wurde sie mit dem „Alternativen Nobelpreis“ und einigen anderen Preisen ausgezeichnet.

Komitee: Eine echte Journalistin

Das Right-Livelihood-Kommitee beschreibt Goodmans Journalismuskonzept so: Amy Goodman hat ein innovatives Modell von echtem unabhängigem politischem Journalismus entwickelt. Damit bringt sie alternative Stimmen zu Millionen Menschen, die oft von den Mainstream-Medien ausgeschlossen sind.
Derzeit wird ihre Sendung von mehr als 700 konzernunabhängigen Radio- und Fernsehstationen in den USA und Europa übertragen. Wichtiger noch ist jedoch, dass Goodmans penible Recherchen oft einen „trickle up“-Effekt auslösen, wie sie es nennt. Wer in ihrer Sendung auftritt, wird oft von den großen Medien wie der New York Times interviewt und erreicht mit seiner Botschaft so nicht nur ein weit größeres Publikum, sondern gewinnt auch Prestige.
Trotz dieser Erfolge, musste Goodman nicht erst beim Parteitag der Republikaner erkennen, dass sie mit ihrem „Graswurzel“-Journalismus mutiger ist, als die meisten Reporter. „Ein Kollege eines großen Fernsehsenders fragte mich nachher: ,Warum wurdest Du eigentlich inhaftiert und ich nicht? Ich war doch auch beim Parteitag.’ Darauf entgegnete ich nur: ,Ach, und du hast auch über die Proteste berichtet?’ Er antwortete: ,Nee, über die Proteste habe ich nichts geschrieben. Hätte ich das sollen? Das war doch nicht im offiziellen Programm.’“

Antworten wie diese bestärken Goodman, dass sie das Richtige tut, auch wenn sie gerade von Politikern für ihr Auftreten nicht nur Lob erfährt. „Widerspruch“, so sagt sie „ist das, was unser Land gesund macht. Indem sie in ihrer Sendung Widerspruch provoziert, versucht sie, eine Sicht der Dinge zu erreichen, wie sie sonst nur wenige ihrer Kollegen bieten.
Kein Wunder, dass ihr jegliche Euphorie für institutionalisierte Politik fremd ist. Gefragt, ob sie glaubt, dass die Wahl Obamas zum US-Präsidenten einen Wandel in der Politik und ihrem Journalismus bringe, antwortet sie knapp. „Nein. Ich glaube, wir werden auch weiterhin allen divergierenden Stimmen eine Plattform bieten, mit besonderer Aufmerksamkeit für die, die von den Medien ausgegrenzt werden.“ Und diese Gruppe ändere sich kaum, egal, ob Demokraten oder Republikaner regierten.
Als Beispiel für die große Koalition der Mächtigen führt sie immer wieder den Irakkrieg an. Sowohl Demokraten als auch Republikaner hätten den Einmarsch mit Massenvernichtungswaffen begründet, von denen heute jeder weiß, dass es sie nicht gegeben hat. Democracy Now! sendete vom ersten Tag an die Nachricht, dass es eben diese Waffen nicht gibt – und stand damit ziemlich allein. „Die kommerziellen Medien in diesem Land spiegeln das Meinungsspektrum zwischen Demokraten und Republikanern wider. Statt den Mainstream zu repräsentieren, zeigten sie nur verschiedene Facetten des gleichen Extrems.“
Das ist für sie Legitimation genug, jeden Tag aufs Neue alles daran zu setzen, die Stimmen der Menschen auf der ganzen Welt aufzunehmen und zu senden – ob von Stockholm aus, wo sie am 8. Dezember berichtete, oder aus Berlin, von wo aus sie ihre Sendung im Rahmen einer kleinen Tournee am 12. Dezember sendete.
   








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