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Der Journalismus und das Weihwasser
KULTUR | BOULEVARDISIERUNG (15.09.2006)
Von Siegfried Weischenberg
Journalisten müssen können, was sie sollen, und dürfen, was sie wollen. Sie brauchen Kompetenz und Autonomie. Was sie sollen, wissen sie ziemlich genau: informieren und orientieren. Auf einem anderen Blatt steht, ob sie dies auch können und vor allem: dürfen. Die Bedingungen dafür werden offenbar immer schlechter.

privat

Autor Siegfried Weischenberg ist Professor für Journalistik in Hamburg. (c) privat

Was ist mit dem deutschen Journalismus los? Steckt er in der Krise, wie viele glauben? Geht es ihm gar an den Kragen, weil es im Zeitalter des Internets genug Informationen gibt, so dass man das Geld zum Beispiel für den Kauf von Zeitungen sparen kann?

Und ist nicht längst - zumindest prinzipiell - jeder ein Journalist? Die Millionen Weblogger in aller Welt, die für die Verbreitung ihrer Informationen, Meinungen und Befindlichkeiten auf die klassischen 'Massenmedien' gar nicht angewiesen sind, erwecken jedenfalls diesen Eindruck.

Auch die Forschung zum Journalismus präsentiert dem Beruf nicht allzu aufmunternde Befunde. Demnach müssen heute weniger hauptberufliche Journalisten mehr Programm machen und Seiten füllen als vor einem Jahrzehnt. Für ihre eigentliche Aufgabe - sorgfältige Recherche, unabhängige Information und präzise Analyse - bleibt ihnen immer weniger Zeit. Gleichzeitig droht der Beruf seine Identität zu verlieren: Die Grenzen zum Geschäft und zur Unterhaltung verschwimmen; Public Relations und Infotainment verderben die guten Sitten.

Die Entgrenzung durch 'Boulevardisierung' der Inhalte, die längst auch die seriösen Qualitätsmedien erfasst hat, provoziert eine grundsätzliche Frage zum Zustand des Journalismus in unserer Zeit: Wie sehr kann man Weihwasser verdünnen, ohne dass es seine Wirkung verliert?

Bekanntlich soll Weihwasser - wie der Journalismus - der Abwehr von Gefahren dienen. Doch wie und wann geht dem Journalismus durch Verdünnung so viel Substanz verloren, dass er für seine 'öffentliche Aufgabe' untauglich wird?

Personifiziert wird das Problem von journalistischen 'Alphatieren', die durch das Medium Fernsehen prominent und durch Produktwerbung reich wurden. Sie leben (sehr gut) davon, vieles nebeneinander zu machen, was mehr oder weniger mit Journalismus zu tun hat. Hauptsache: es menschelt. Sie stehen Modell für das neue Berufsbild des 'Unterhaltungsjournalisten', das ein Widerspruch in sich selbst ist.

Auch die TV-Nachrichtenmoderatoren wandeln hier auf einem schmalen Grat: Sie posieren vor dem kleinen Fenster, durch das die Leute auf die 'Wirklichkeit' schauen sollen und werden zu Stars, die Autogramme geben und vor der Boulevardpresse auf der Hut sein müssen.

Die Entgrenzung des Journalismus zu den Public Relations wird insbesondere durch die Situation der freien Journalisten deutlich: Immer weniger Personen können hier von der Arbeit für aktuelle Medien leben und müssen anderswo anschaffen gehen.

Eigentlich sollen Journalisten Lobbyisten der Bevölkerung sein - doch viele, allzu viele dienen inzwischen Einzelinteressen, die viel Geld haben und dafür viel Einfluss haben wollen. Kann man aber eine 'öffentliche Aufgabe' wahrnehmen und gleichzeitig als 'Experte der Verdrehung' wirken?

Für viele Journalisten sind die PR inzwischen Haupteinnahmequelle. Dies führt zu einer Deprofessionalisierung des Journalismus. Ist jemand noch Arzt, wenn er gelegentlich zwar ein wenig herumdoktert, aber sein Geld in der Pharmaindustrie verdient?

Der größte Feind für den Journalismus in den Gesellschaften westlichen Typs ist heutzutage nicht mehr der Staat, sondern das Geld. Geld, das zumindest einem Teil der Medien fehlt und das ihren Redaktionen und Journalisten entzogen wird. Geld, das Personen und Institutionen haben, die in die Medien wollen, weil sie sich von deren Glaubwürdigkeit Nutzen für die eigenen Interessen versprechen.

Dadurch wandelt sich die Rolle der Journalisten in den Medien. In unserer 'Mediengesellschaft' sollen sie eigentlich 'Souffleure' sein, die Texte für öffentliche Diskurse vorsprechen; in diesem Sinne sind sie Vermittler. Doch immer mehr von ihnen werden zu DJs - zu Diskjockeys, die Themen geschmeidig empfehlen und sich dabei an Zuflüsterungen von Lobbyisten oder am vermeintlichen Massengeschmack orientieren.

Noch einmal: Wie sehr darf man Weihwasser verdünnen, ohne dass es seine Wirkung verliert? Im Weihwasser steckt die Kraft der Reinigung - gegen den Teufel und alles andere, was der Seele schadet. Deshalb müssten wir eigentlich alles dafür tun, dass es seine Wirkung nicht verliert.

Andererseits schreckt die Meldung auf, dass im Weihwasser millionenfach Keime enthalten sind: Staphylokokken, Rädertierchen, Würmer, Hautfetzen, Streptokokken. Das Hygieneinstitut der Münchner Universität hat all dies in bayerischen Kirchen gefunden. Am schlechtesten schnitt die Gnadenkapelle im Wallfahrtsort Altötting ab.

Wenn das so ist, sollten wir wohl die Ansprüche herunterschrauben und künftig schon froh sein, wenn der Journalismus nicht allzu kontaminiert ist.


Dieser Beitrag ist am 31. August im "Politischen Feuilleton" von DeutschlandRadioKultur (in Münster UKW 97,5) erschienen.
   






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