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Utopisch, dass jeder zu Wort kommt und auch gehört wird
GESELLSCHAFT | NACHRICHT UND MEINUNG IM NETZ (15.03.2008)
Von Sarah Khalil
Wenn sich die Bloggerszene so weiterentwickelt wie bisher, kann der Journalismus einpacken. Diese These rauscht schon seit Jahren durch die Blogosphäre.

Und tatsächlich zeigt allein die schiere Masse, dass selbst organisierte Nutzerplattformen im Web 2.0 die Medienszene revolutionieren. Es gibt laut Blogzensus 133.300 deutschsprachige Weblogs, die innerhalb der letzten zwei Monate aktualisiert wurden. „Hier sind Schranken und Barrieren gefallen, die es bisher verhindert haben, dass sich das Publikum öffentlich zu Wort meldet“, konstatiert Professor Dr. Christoph Neuberger, Leiter des Instituts für Kommunikationswissenschaft Münster.

Früher brauchte es bis zur ersten eigenen Veröffentlichung eine umfassende journalistische Ausbildung und oft jahrelanges kostenfreies Arbeiten in Redaktionen. Heute kann potentiell jeder Blogger berühmt werden. Denn einerseits fallen professionelle Journalisten als Hürde zur Publikation nun weg. Andererseits müssen im Web 2.0 weder Medienpolitik noch Programmaufträge berücksichtigt werden.

Das Internet kann viel mehr Themen eine breite Öffentlichkeit bieten, als es traditionelle Medien je konnten. Ein weiterer Grund für diese schöne neue Medienwelt ist ein ganz praktischer: Im Web 2.0 sind die technischen Barrieren gefallen, die es bisher verhindert haben, dass die Masse der Zuhörer sich tatsächlich am Mediengeschehen beteiligt. Jedermann kann mit ein paar Klicks seine Meinung ins Netz stellen und – wenn er Glück hat – berühmt werden. Salam Pax machte es vor. Er berichtete während der US-Invasion im Irak kontinuierlich aus dem Land. Seine Texte wurden erst in diversen Medien zitiert, dann bekam der Blogger einen Vertrag beim renommierten englischen Blatt Guardian.

photocase.com, Benutzer eyelab

Megaphone (c) photocase.com, Benutzer eyelab

„Das Internet löst das Problem des kommunikativen Zugangs.“

Diese Beispiele zeigen: „Das Internet löst das Problem des kommunikativen Zugangs“, so Neuberger Es ist jedoch nicht das Alleinseligmachende, denn durch das Netz ergeben sich eine ganze Reihe kommunikativer Folgeprobleme: „Wir haben, um es ganz platt zu formulieren, es einerseits mit einer Informationsflut zu tun und andererseits mit Informationsmüll.“ Denn die Inhalte eines Blogs entstehen nicht nach den gleichen journalistischen Standards wie die einer Zeitung. „Es gibt keine flächendeckende Qualitätssicherung im Internet.“ Vielmehr werde oft erst publiziert und das Geschriebene dann in der Öffentlichkeit korrigiert.

Auch den Kommunikatoren können Blogs Probleme bereiten. „Wer die Erwartung hat, im Blog endlich mal seine Meinungen zu politischen Themen kundtun zu können und damit Meinungsbildungsprozesse zu beeinflussen, der wird wohl enttäuscht“, dämpft Neuberger die Hoffnungen in das neue Medium. „Viele Diskussionen verläppern sich.“ Und auch der kommunikative Zugang gestaltet sich ein bisschen schwieriger als es auf den ersten Blick erscheint. Es gibt auch in Deutschland eine Kluft zwischen denen, die gut vernetzt sind und denen, die das Netz kaum für sich nutzen. Selbst diejenigen, die bloggen, tun dies meist aus Spaß und, um ihre Ideen und Erlebnisse festzuhalten. Die wenigen Blogger, die wirklich Einfluss auf Diskussionen haben wollen, müssen die Aufmerksamkeit recherchierender Nutzer gewinnen. Eine Gesellschaft, in der sich jeder zu Wort melden kann und auch gehört wird, bleibt eine Utopie.

„Die Gatewatcher sind nicht diejenigen, die Entscheidungen treffen, ob etwas publiziert wird, sondern die, die einen Überblick über das schaffen, was publiziert worden ist.“

Offenbar werden Journalisten als Gatekeeper durch das Internet also nicht überflüssig. Laut Neuberger erfüllen die Journalisten künftig jedoch andere zentrale Aufgaben: Sie sorgen für Orientierung, vervollständigen und korrigieren das Wissen im Internet und sie treten als Moderatoren auf. Ein Journalist, der Orientierung schafft, trennt die Flut unnützer Informationen von wichtigen Inhalten – etwas, das der Forscher Axel Bruns als Gatewatching bezeichnet. „Die Gatewatcher sind nicht mehr diejenigen, die Entscheidungen treffen, ob etwas publiziert wird, sondern die, die einen Überblick über das schaffen, was bereits publiziert worden ist.“ Journalisten müssen also künftig noch besser recherchieren und mit dem Hypertextprinzip umgehen können. Sie sind mit ihren Fähigkeiten nur ein Teil der integrierten Plattform Web 2.0, glaubt Neuberger.

Mit der Ansicht, das Web 2.0 integriere verschiedene Öffentlichkeiten, stellt er sich gegen die vorherrschende Meinung, die glaubt, das Internet zersplittere die Öffentlichkeit in kleine Interessengruppen. „Bisher hatten wir eine fragmentierte Öffentlichkeit, die vor allen Dingen mit dem Journalisten als Gatekeeper eine große Hürde hatte. Seitdem diese Hürde gefallen ist, sind Themenkarrieren keine Grenzen gesetzt.“ Innerhalb dessen ist der Journalist so etwas wie ein Navigator. Er organisiert das Wissen im Internet nicht nur, sondern vervollständigt und korrigiert es auch. Denn nach wie vor ist es unerlässlich, dass Geschichten außerhalb des Netzes recherchiert werden – etwas, das Bloggern ohne journalistische und redaktionelle Kontakte sowie ein seriöses Medium im Rücken sehr schwer fallen dürfte. Weiterhin werden professionelle Journalisten künftig als Moderatoren der zahlreichen, unübersichtlichen Internetdebatten auftreten: „Ich bin der Überzeugung, dass sich dabei die klassischen journalistischen Berufsnormen auch im Internet nicht ändern werden“, sagt Neuberger. Schließlich hat auch der Leser Bedarf nach aktuellen, richtigen und kontinuierlichen und vielfältigen Informationen, die er unmöglich täglich aus verschiedenen Weblogs zusammenstellen kann. Die Tatsache, dass die Seiten von traditionellen Medien wie SPIEGEL und Süddeutsche noch immer zu den meist besuchten im Netz gehören, beweist seine These.

Wer weiß, welche Leistungen guter Journalismus erfüllt, kann auch im Web 2.0 auf die Suche nach ihm gehen. Doch wie misst man die Moderationsleistung eines Blogs? Will ein Blog den öffentlichen Diskurs zu einem Thema fördern, muss er folgenden Fragen standhalten: Sind die Aussagen, die gemacht werden, begründet? Nehmen die Akteure Bezug aufeinander? Verläuft der Diskurs rational? Es gibt in der Tat einige Blogs, die vielen dieser Kriterien standhalten – jedoch bei weitem nicht alle. Vielmehr finden sich gerade unter den populären Blogs vorwiegend solche, die persönliche Meinungen vertreten.

Drei Viertel der Zeitungswebsites geben ihren User die Möglichkeit, sich zu beteiligen

Anhand der oben genannten Kriterien finden sich auch viele Beispiele, die das Mitmachnetz und den professionellen Journalismus vereinbaren. Wie genau dese Brücke geschlagen wird, untersuchte ein umfangreiches Forschungsprojekt der Universität Münster: Von Juni bis Oktober 2007 wurden 183 Leiter von Internetredaktionen aus den Bereichen Presse und Rundfunk sowie Verantwortliche von reinen Internetangeboten befragt. Drei Viertel aller Zeitungen bieten wenigstens eine Form der Beteiligung an. Meist ist diese jedoch auf das Schreiben von Leserbriefen reduziert. Das heißt: User können nur auf Artikel der Redaktion reagieren. Rund zwei Drittel (65 Prozent) der befragten Redaktionsleiter geben an, dass sie Diskussionsforen zu journalistischen Beiträgen anbieten. Die Themen selbst bleiben jedoch in redaktioneller Hand. Anders ist es beim erfolgreichen Forum der koreanischen Tageszeitung ohmyNews.com: Hier können die Nutzer darüber abstimmen, was am Folgetag der Aufmacher der Zeitung werden soll.

Die am weitesten verbreitete Form der Nutzerbeteiligung ist die Aufforderung, selbst zu recherchieren und Augenzeugenberichte abzuliefern. Einen solchen zeigte die Tagesschau nach den Anschlägen in London. Das schafft zwar mehr Partizipation, erfordert aber auch ein verändertes Rollenverständnis unter den Journalisten, denn sie müssen ihre alleinige Entscheidungsmacht aufgeben. Außerdem müssen die Profis alle eingehenden Bilder korrigieren, weshalb die Redaktionen durch Leserreporter keinesfalls Kosten sparen, wie die Münsteraner Studie ergab.

Die meisten Blogger haben keine journalistischen Ambitionen

Angesichts dieser vielen Mitmach-Möglichkeiten stellt sich die Frage: Brauchen wir den Journalismus noch? – Ja, denn viele Blogger wollen Journalisten nicht ersetzen. Ihre Ambitionen gehen gar nicht so weit, ergab eine nicht repräsentative Internetbefragung von 5.264 Bloggern. Die meisten Blogs hatten Tagebuchcharakter und wurden von den Autoren „für sich selbst“ geschrieben, referiert Neuberger. Ausnahmen sind Nachrichtencommunities wie shortnews. Doch auch sie haben bisher nur eine sehr kleine Rolle für die Recherche von Journalisten.

Alles deutet also darauf hin, dass der klassische Journalismus trotz Blogs und Co nicht überflüssig geworden ist. Dennoch nennen Verfechter der Blogosphäre immer wieder Beispiele, die zeigen sollen, dass gerade durch ihre Hilfe Missstände aufgedeckt werden. In Deutschland ist hier unter anderem die Diskussion um Jamba-Klingeltöne bekannt. Die Firma war in die öffentliche Kritik geraten, weil sie bei Jugendlichen dafür warb, kostenpflichtige Klingeltöne für das Handy zu kaufen. Was sie jedoch verschwieg: Schon beim ersten Kauf wird ein Abo-Vertrag abgeschlossen, der den Käufer zum regelmäßigen Bezug der Töne verpflichtet - kostenpflichtig, versteht sich. Ein Spreeblick-Blogger nahm das Thema auf, verpackte es in einen amüsanten Artikel, der in der Blogosphäre schon bald kursierte, und brachte so das Fass zum überlaufen. Er schaffte es, das Thema erneut in die Medien, die Öffentlichkeit und letztlich auch die Politik zu ziehen und belebte eine Debatte wieder, in deren Folge diese Art der Werbung gesetzlich verboten wurde. „Das ist ein Paradefall für den Einfluss von Blogs in Deutschland“, sagt Neuberger. Doch ganz ohne die bestehende Debatte hätte der Blog-Artikel wohl nie so viel Aufsehen erregt. Auch hier puschten klassische Medien das Thema.

Das wird auch künftig so bleiben, glaubt Neuberger: „Es ist nicht auszuschließen, dass es auch im Internet intelligente Formen der Verknüpfung von Usern gibt, die auch in der Lage sind, journalistische Leistungen zu erbringen.“ Langfristig werde das Web 2.0 allerdings eher ergänzend zum klassischen professionellen Journalismus Bestand haben.

Weiterführende Links
http://egora.uni-muenster.de/ifk/personen/christophneuberger.htmlProf. Christoph Neuberger am Institut für Kommunikationswissenschaft, Uni Münster
http://www.message-online.com/81/neuberger.htmDer Leser: Unser neuer Mitarbeiter - Artikel in der Fachzeitschrift Message
   




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