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Aus der Rolle gefallen
KULTUR | GLAUBWÜRDIGKEIT (15.10.2005)
Von Giovanni di Lorenzo
Wenn Journalisten Stimmung machen, setzen sie ihr höchstes Gut aufs Spiel: die Glaubwürdigkeit.

DIE ZEIT

Autor Giovanni di Lorenzo ist Chefredakteur der Wochenzeitung "DIE ZEIT". (c) DIE ZEIT

Vielleicht sollten wir Journalisten nach dem 18. September nicht gleich zur Tagesordnung übergehen. Es haben nämlich vor der Wahl nicht nur alle Demoskopen und ein Teil der Politiker die Ängste und Wünsche der Wähler falsch gedeutet und einen klaren Sieg der Union vorausgesagt. Auch die Medien haben sich blamiert. Sie haben sich ganz auf die Prognosen verlassen und sich gegenseitig in ihren falschen Einschätzungen noch bestärkt, statt sie mit Distanz zu prüfen. Insofern sind wir Journalisten Teil des Problems, das mit dem überraschenden Ergebnis am 18. September sichtbar geworden ist: Das Sensorium für die Menschen außerhalb des politischen Betriebs ist stumpf geworden.

Dazu kommen massive Vorwürfe aus der rot-grünen Koalition, die zwar abgewählt wurde, aber besser abgeschnitten hat als vorausgesagt. Nach Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer hat sich jetzt auch Innenminister Schily die Medien vorgeknöpft. Vor dem Kongress der Zeitungsverleger beklagte er die kaum verhüllte Absicht vieler Journalisten, »Wahlkampfhilfe« für Schwarz-Gelb zu leisten. Spitzenpolitiker von Sozialdemokraten und Grünen verbreiten überdies, es habe eine konzertierte Aktion gerade jüngerer Journalisten unterschiedlicher Häuser gegen Rot-Grün gegeben.

Diese pauschale Beschuldigung, die man auch als Versuch der Einschüchterung lesen kann, spiegelt nicht die Realität in den Redaktionen wider, sondern das Politiker-Prinzip: Jeder positive Bericht ist objektiv, jede Kritik aber eine Kampagne. Eine Verschwörung gegen Rot-Grün hat es nicht gegeben. Trotzdem sind Otto Schily und andere zu Recht irritiert, denn die Kommentierung des Wahlkampfes in diesem Jahr hat sich von der vergangener Jahrzehnte tatsächlich unterschieden. Zum einem haben Blätter, die das rot-grüne Projekt zu Beginn durchaus mit Sympathie begleitet haben, wie Spiegel, stern, Süddeutsche Zeitung und auch die ZEIT, diesmal keine oder nur vereinzelt Zustimmung zu einer neuen Koalition von SPD und Grünen erkennen lassen (was möglicherweise mit dem Zustand der Regierung und den Umständen der Neuwahlen etwas zu tun hatte).

Zum anderen hat die Bild-Zeitung im Gegensatz selbst zu anderen Springer-Blättern besonders in den letzten Tagen vor der Wahl eine Parteilichkeit für Schwarz-Gelb zur Schau getragen, die Maßstäbe setzt. Allerdings kann man angesichts der offenkundigen Wirkungslosigkeit solcher Bekenntnisse auch die Theorie von Bild als Leitmedium infrage stellen, womöglich den Einfluss von Journalisten auf Wähler überhaupt.

Aus der Sicht der Politiker ist auch der Eindruck zutreffend, dass sie es zunehmend mit einem neuen Typus von Journalisten zu tun haben. Es gibt inzwischen in Deutschland eine vorbildliche Tradition für politischen Journalismus, einige Lehrmeister werden schmerzlich vermisst. Daneben existiert aber der politische Korrespondent, der über Dekaden auf eine Partei und auf wenige Politiker spezialisiert ist; ihnen wird er mit den Jahren zum Duzfreund und zeitweiligen Berater. Die jüngeren Kollegen hatten zum Aufbau solcher Beziehungen nicht mehr die Zeit und manchmal auch nicht die Lust. Dass sie es vorziehen, sich zu jedem Thema wieder aufs Neue eine Meinung zu bilden, mag sie in den Augen von Politikern unberechenbar erscheinen lassen. Im Prinzip ist das aber ein Fortschritt: Loyalität gegenüber den Lesern, nicht gegenüber der Partei.

Problematisch wird diese Haltung erst, wenn sie ausartet in ein ohrenbetäubendes Meinungs-Hopping, wenn Reformen erst herbeigeschrieben und dann niedergeschrieben werden, wenn als Gesamteindruck kaum mehr als eine gefährliche Vereinfachung hängen bleibt - der Politiker als Lachnummer. Oder wenn, wie nach dem Duell zwischen Schröder und Merkel geschehen, sich Journalisten an die erwartete Wahlsiegerin heranwanzen.

Fast jeder Kommentator würde in das Klagelied einstimmen, die Politik erfahre eine Vertrauenskrise. Nicht alle aber merken, dass die Medien längst Teil dieser Krise sind, weil sie sich zu wenig infrage stellen. Einige der wichtigsten Medienhäuser haben aufgehört, sich gegenseitig zu kritisieren - auch dann nicht, wenn Einzelne Kampagnen veranstalten oder Vendetta-Journalismus an Kritikern üben. Es geht aber am Ende um unsere Glaubwürdigkeit bei den Lesern oder Zuschauern. Glaubwürdigkeit heißt, wie in der Politik auch: Unabhängigkeit. Und Unterscheidbarkeit.


Dieser Artikel ist am 29. September bereits in der ZEIT erschienen.
   




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