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'Lehrpläne sind eine absurde Vorstellung'
GESELLSCHAFT | UNTER VIER AUGEN (15.08.2008)
Von Jörg Rostek
Interview mit Henrik Ebenbeck, Lehrer an der Freien Schule Leipzig, während der European Democratic Education Conference.

Presse

Henrik Ebenbeck (l.) im Gespräch mit iley-Autor Jörg Rostek. (c) Presse

iley: Hallo Henrik, wer bist du und was machst du?

Henrik Ebenbeck: Mein Name ist Henrik Ebenbeck und ich bin seit 14 Jahren Lehrer an der Freien Schule in Leipzig. Diese Schule ist die Hauptveranstalterin der ersten European Democratic Education Conference (EUDEC). Ich bin außerdem im Vorstand des Bundesverbandes der freien Alternativschulen (BFAS) und ich bin Mitglied des Council zur Verbesserung der Vernetzung freier Schulen europaweit.

iley: Worin liegt denn der Unterschied zwischen einer freien demokratischen Schule und einer staatlichen Schule?

Henrik Ebenbeck: Es gibt im Wesentlichen zwei entscheidende Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit sich eine Schule als demokratische Schule bezeichnen kann. Zum einen, dass die Schülerinnen und Schüler wirklich frei den Unterricht gestalten können. Das Zweite ist, dass sie gleichberechtigt an Entscheidungen über ihre Schule beteiligt sind. Es muss also in der Schule regelmäßige Versammlungen geben, an denen die Schülerinnen und Schüler vollkommen gleichberechtigt teilnehmen, also das gleiche Stimmrecht wie Lehrerinnen und Lehrer haben.

iley: Wie muss man sich den Tagesablauf in einer demokratischen Schule vorstellen?

Henrik Ebenbeck: Das typische ist, dass es gerade einen derartigen Tagesablauf nicht gibt. Dies ist immer dann besonders lustig, wenn die Schulaufsicht kommt. Einmal kam eine Frau und die meinte dann, sie würde später wieder kommen, um den richtigen Unterricht zu sehen. Das sagte sie deshalb, weil sie nicht verstanden hat, dass dies der richtige Unterricht war.

iley: Das heißt also, dass die Schülerinnen und Schüler selbst entscheiden, wann der Unterricht beginnt und wann er endet?

Henrik Ebenbeck: Genau. Jede Schulgemeinschaft gibt sich eigene Regeln und hält sich dann auch daran. Gibt es eine Anwesenheitspflicht? Sollen Kurse angeboten werden oder finden diese nur statt, wenn die Schülerinnen und Schüler das einfordern? Das sind unter anderem Dinge, die auf Schülerversammlungen geklärt werden. Eltern können nicht mitbestimmen, da sie ja nicht Teil der Schulgemeinschaft sind. Die Grundidee ist, dass alle, die von einer Entscheidung betroffen sind, das Recht haben, mitzuentscheiden. Ich muss nicht auf die Versammlungen gehen, aber ich habe das Recht. In Summerhill gibt es dreimal die Woche Schulversammlungen. Dort können Themen besprochen und Anträge gestellt werden. Dies können ganz banale Dinge sein. Wir hatten einmal lange die Diskussion gehabt, ob man mit oder nur ohne Schuhen in das Haus gehen darf. Und nachdem eine Entscheidung gefallen ist, ist diese natürlich für alle bindend.

iley: Die einfache Mehrheit trifft die Entscheidung?

Henrik Ebenbeck: Ja, genau. Und Demokratie ist ja auch kein Wert an sich, sondern nur eine Methode, die natürlich auch Schwachstellen hat. Wenn sich bei den Schulversammlungen zu wenige beteiligen. Wenn nur 20 Prozent überhaupt dorthin gehen, dann ist das nicht repräsentativ. Da gibt es an zahlreichen Schulen Wellenbewegungen. Manchmal wird die Teilnahme an den Versammlungen von den Schülerinnen und Schülern selbst zur Pflicht gemacht, kann aber genauso gut wieder abgeschafft werden.

iley: Woher stammt die Idee der freien demokratischen Schulen?

Henrik Ebenbeck: Das ist eine sehr alte Idee. Der erste Vorläufer ist die Schule Jasnaja Poljana von Tolstoi. Dort wurden Bauernkinder unterrichtet, die auf seinem Landgut gearbeitet haben. Die älteste noch existierende demokratische Schule ist die in den 20er Jahren gegründete Summerhill- Schule.

iley: Warum können sich demokratische Schulen, beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland nur schwer durchsetzen? Wie viele gibt es hier?

Henrik Ebenbeck: Im Bundesverband freier Alternativschulen sind in etwa 100 Schulen Mitglied. Darunter sind 15 Schulen, in denen Schüler und Lehrer stimmrechtlich gleichberechtigt sind.

iley: Woher kommt die Skepsis, beispielsweise von der Schulaufsicht, beispielsweise aus der Gesellschaft?

Henrik Ebenbeck: Demokratische Schulen müssen sich ständig nach allen Seiten rechtfertigen. Gegenüber den Erwartungen der Eltern, gegenüber der Schulaufsicht und gegenüber den gesellschaftlichen Erwartungen. Mit den Schulbehörden ist es so, dass man in Deutschland keine Schule ohne staatliche Genehmigung betreiben darf. Diese Genehmigung zu bekommen ist für demokratische Schulen sehr schwer. Beispielsweise für so genannte Sudbury-Schulen, die ein sehr klares Konzept haben. Deshalb nennen sich diese Schulen oft Lernzentren, also keine Schulen, in denen sie mit den Kindern arbeiten können. Dort bekommen die Eltern dann jedoch Bußgeldbescheide, wegen der Verletzung der Schulpflicht und deshalb brechen solche Projekte zusammen. Ein anderer Vorwurf ist das Vorurteil, dass wenn man freiwillig lerne, man nichts lerne. Ich glaube, dass dies zahlreiche Menschen denken, da sie selbst nie eine freiwillige Lernerfahrung gemacht haben, sondern durch ein sehr striktes Schulsystem gegangen sind. Die meisten Menschen haben die Erfahrung Tests und Prüfungen absolvieren zu müssen, deshalb sind neue Ideen, wie freie demokratische Schulen, für solche Menschen sehr verstörend.

iley: Gibt es einen Unterschied zwischen einem Schüler, der eine staatliche Schule besuchte und einem Schüler, der auf einer freien demokratischen Schule war? Worin liegt der Mehrwert einer demokratischen Schule?

Henrik Ebenbeck: Das ist eine sehr pauschale Frage, die ich weigere pauschal zu beantworten, weil ich nicht alle staatlichen Schulen, genauso wenig wie alle freien Schulen über einen Kamm scheren darf und will. Aber durch die Erfahrungen, die wir gemacht und durch das Feedback, dass wir bekommen haben, kann ich sagen, dass unsere Schülerinnen und Schüler in einem neuen Lernumfeld, also in weiterführenden Schulen, Klassen- oder Schülersprecher werden. Denn die sind kommunikativ fit. In unserer Welt muss sehr viel ausgehandelt werden und darin sind Schüler aus demokratischen Schulen einfach gut. Die können diskutieren und sie haben in der Regel eine hohe Sozialkompetenz. Haben ein vielfältiges Repertoire, um Probleme zu lösen. Sie können selbstständig arbeiten und können sich gut auf Gruppen einstellen. Sie haben eine Vorstellung davon, wer sie sind. Sie kennen ihre Stärken und Schwächen recht gut, kennen ihre Ziele und haben eine Idee davon, wie sie diese Ziele umsetzen können.

iley: Können demokratische Schulen eine Antwort auf Pisa sein?

Henrik Ebenbeck: Absolut. Ich würde zwar nicht sagen, dass sie das einzig wahre Schulkonzept sind, aber sie sind sicherlich ein Konzept, dass viele Probleme, die in den Regelschulen flächendeckend vorhanden sind, löst. Das liegt daran, dass Schülerinnen und Schüler an demokratischen Schulen anders miteinander umgehen, da es dort keine unmenschliche Hierarchie gibt. Und die Schüler verlieren nicht ihre natürliche Neugier, die eigentlich jeder Mensch hat. Wenn man Kinder beobachtet, die noch nicht zur Schule gehen, die erforschen den ganzen Tag ihre Umwelt. Dann stellen sie unentwegt Fragen. Und wenn sie in die Schule kommen, dann sagt man ihnen plötzlich womit sie sich beschäftigen sollen und auch noch wie sie dies tun sollen. Das ist natürlich für die intrinsische Motivation tödlich. Sie verblasst und geht verloren. Lehrpläne sind wirklich eine absurde Vorstellung. Aus der Fülle des Wissens, die es auf der Welt gibt, einen winzigen Teil festzulegen und den verbindlich für alle zu machen. Das ist absurd, aber es passiert.

iley: Glaubst du, dass es viele Lehramtsstudierende gibt, sie sich für freie Schulen interessieren?

Henrik Ebenbeck: Sie sollten es jedenfalls kennen und am besten selbst erfahren. Die Möglichkeit über seinen eigenen Lehrplan und die eigenen Angelegenheiten selbst zu bestimmen, sollte es auch im Studium geben. Auch als Gruppe abstimmen zu können. Die Zufriedenheit steigt rapide an, wenn ich wirklich über die Dinge, die mich betreffen, mit entscheiden kann. Hier auf der EUDEC übernachten ja viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einer öffentlichen Schule. Dort hängt ein Schild, auf dem steht, wenn Schüler 10 Minuten zu spät zum Unterricht kommen, nicht mehr ins Klassenzimmer gelassen werden. Das ist genau das Gegenteil von dem, was ich meine. Wenn ein Mensch in der Institution, in der er sich befindet, mitgestalten kann, wächst die Identifikation mit ihr. Das führt dazu, dass sie Menschen engagierter und wirklich bei der Sache sind, da sie merken, dass nicht eine Institution im Mittelpunkt steht, der sie ausgeliefert sind, sondern sie als Mensch und zwar genau so wie sie sind. Das ist eine zutiefst befriedigende Erfahrung.

iley: Ich danke dir sehr für das Gespräch.

Weiterführende Links
http://www.eudec2008.org/de/European Democratic Education Conference 2008
   








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