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Die Gitarre als Waffe
POLITIK | LEBEN DES VICTOR JARA (15.11.2005)
Von Jörg Rostek
"Ich glaube fest daran, dass der Mensch im Lauf seines Lebens frei werden und dass er für die Gerechtigkeit arbeiten muss." (Victor Jara)

Als Victor Jara 1953 die Infanterieschule in San Bernando verließ, fiel er in ein schwarzes Loch. Unentschlossen stand er vor der Welt, unfähig, die unzähligen Möglichkeiten zu erkennen, die das Leben anbieten kann. Er hatte keine Ausbildung, kein Geld, keine Familie, keine Freundin. Nur sein Talent. Deshalb beschloss er auf eine Zeitungsannonce zu antworten. Der Universitätschor suchte begabte Stimmen für eine Aufführung der Carmina Burana. So wurde Victor Tenor.

Jedoch, Victor Jara suchte nicht nur die Ausdrucksform der Stimme, sondern auch die seines Körpers. Als er eines Abends die Aufführung eines bekannten Pantomimen-Ensembles erlebte, steuerte er nach der Vorstellung in die Künstlergarderobe, um herauszufinden, wo er denn die Kunst der Pantomime erlernen könne. So wurde er Mitglied der Theatergruppe. Eine gute Alternative zum Militär, die ihm ermöglichte beim Rollenspiel seine Ausdrucksfähigkeit und Bühnenpräsenz weiter zu verbessern. Unsterblich in das Theater verliebt, trat er eher zufällig als geplant in die Theaterschule der Universität Chile ein, und wurde Schauspieler.

Diese Ausbildung dauerte ganze drei Jahre. Sie enthielt Unterrichtseinheiten zu Bewegung und Stimmbildung sowie Schauspielübungen und Theaterwissenschaft. Als er in einer Aufführung die Rolle eines Bären zugewiesen bekommt, verbringt er täglich mehrere Stunden im Zoo. Da Victor immer von Geldnot und Hunger geplagt lebte und sich eine Busfahrkarte nicht leisten konnte, war er gezwungen, um auf das Zoogelände zu gelangen, mehrere Kilometer zu laufen.

Michael Billig

Das Buch ist die 1. Auflage. Ein weitere hat der Verlag nicht unternommen. (c) Michael Billig

Victor entdeckt Parallelen zwischen Theater und Politik

Als seine Studienzeit sich zum dritten Male jährte, begann Victor sich mehr und mehr in der Studentenbewegung zu engagieren. Die Politik berührte ihn und er verfolgte interessiert den Präsidentenwahlkampf zwischen dem Christdemokraten Jorge Alessandri, der von multinationalen Konzernen unterstützt wurde und Salvador Allende. Der Wahlkampf war damals auch deswegen hoch brisant, weil die Darstellung der Kandidaten in der Öffentlichkeit starke US-amerikanische Züge aufwies. Sehr schnell erkannte Victor die Parallelen zum Theater, die Illusionen und Inszenierungen. Allende unterlag Alessandri mit einem Unterschied von 2,7% der Wählerstimmen.

Victor begann damals Pablo Neruda und Maxim Gorki zu lesen. Auch beschloss seine Theaterklasse das Stück "Die Liebe der vier Obersten" von Peter Ustinov aufzuführen. Die kommunistische Bewegung faste vor allem in den studentischen Lebensbereichen immer mehr Fuß. Trotz seiner brennenden Leidenschaft für das Theater war Victor Jaras größter Traum, eine eigene Gitarre zu besitzen. Und da er gerade eine Liebschaft mit einer wohlhabenden Dame eingegangen war, überredete sie ihn mit der Hilfe eines Freundes, sich von ihr eine schenken zu lassen. Die Versuchung war einfach zu groß. So begann ein neues Kapitel in Victors Leben.

Zu zweit machten Victor und sein Freund José sich auf den Weg, das ländliche Chile zu erkunden. Victor hatte sich bewusst dafür entschieden, nur das Leben der Kleinbauern kennen zu lernen. Mit den Großgrundbesitzern wollte er nichts zu tun haben. Nach sechs Wochen Landleben war er in der Lage, einen achtzig Kilogramm schweren Sack zu schultern, Feldarbeit zu verrichten und zu Reiten. Victor nahm die Bauern als "wirkliche" Menschen wahr und vermied es ihr Leben und ihre vielfältigen Traditionen zu verherrlichen oder sie zu idealisieren. Er erkannte die Härte ihres Daseins und sammelte ihre Lieder in seinem Gedächtnis.

Kunst und Kommunismus

Im Zentrum Santiagos stand 1957 in der Calle Huérfanos ein kleines Café namens São Paulo. Dort traf Victor zwischen Künstlern und Intellektuellen mit Violetta Para zusammen, die eine bekannte Folkloresängerin war. Der kulturelle Austausch zwischen den beiden beeinflusste Victors musikalisches Verständnis entscheidend. War seine geliebte Mutter nicht auch eine Sängerin von Volksliedern gewesen? Zwischen Musik und Theater pendelnd widmete er sich ganz der Kunst. Zur selben Zeit gründete er mit Mitgliedern seiner Theaterklasse eine Folkloregruppe. Sie nannten sich "Cuncumén" (murmelndes Wasser). Als die Gruppe beschloss 1957 ihr erstes Album aufzunehmen, war Victor Jara mit einem Lied daran beteiligt, das er schon solo sang, wie es auch später seine Eigenart werden sollte. Sie traten auf Demonstrationen, bei Maifeiern und Geburtstagen auf. Einmal sogar auf einem Geburtstag Nerudas. Victor lernte unzählige Volkstänze, deren Facettenreichtum er mit wachsender Begeisterung bewunderte. Am 18. und 19. September, an den Tagen an denen Chile seine Befreiung und seine Unabhängigkeit von den spanischen Eroberern feiert, ist auch für die Volksmusik ein Feiertag.

Als sich Victors Theaterausbildung sich ihrem Ende näherte, gründete er zusammen mit Freunden und einigen Klassenkameraden eine eigenes Ensemble. Mit dem erklärten Ziel sich nicht in alle vier Winde zerstreuen zu lassen, spielten sie Werke von berühmten Autoren, wie zum Beispiel Oscar Wilde. Als sie versuchten ein Stück einzustudieren, dass auf dem alljährlichen Studentenfestival aufgeführt werden sollte, und schnell klar wurde, dass sie aus Personal- und Zeitmangel zum angesetzten Termin nicht fertig werden würden, beschlossen sie ein eigenes Stück zu schreiben und dieses statt dessen aufzuführen. Die Regie führte Victor Jara. "Parecido a la Felicidad" (So etwas wie Glück) wurde ein großer Erfolg. Danach entschied sich Victor, Regie zu studieren. Die anschießende Tournee mit "Parecido a la Felicidad" führte Victor nach Buenos Aires, Montevideo, Mexiko, Costa Rica, Guatemala, Venezuela, Kolumbien und Kuba. In Kuba konnte die Theatergruppe den Sturz Batistas und die anschließenden Veränderungen zwei bis drei Wochen lang beobachten. Als sich Victor und seinem Freund Hernán als Manager der Gruppe die Möglichkeit bot mit Fidel Castro zusammenzutreffen, fand dieser leider keine Zeit und ließ sich vertreten durch Ernesto "Che" Guevara. Victor Jaras politische Gesinnung scheint sich in dieser Zeit vollkommen dem Kommunisten zugewendet zu haben. Von einer Welttournee, die ihn auch nach Prag, Leningrad und Odessa führte, bekennt er sich in Briefen an seine spätere Frau eindeutig zum Kommunismus.

Nach seiner Heimkehr wird ihm seine Schwester Maria mitteilen, dass sie schwer an Krebs erkrankt ist. Sie starb nach langem Leid. Kurze Zeit später heiratete Victor die Britin Joan Alison Turner Roberts. Beide zogen zusammen und da Joan ein Kind in die Ehe mitbracht hatte, lebten sie dort zu dritt - bis ihr gemeinsames Kind Manuela geboren wurde.

Zwischen Brecht, Atahualpa und Allende

Victor wurde zu einem der erfolgreichsten Jungregisseure des Landes. Er war Mitglied im Regieteam des Theaterinstituts und führte Regie bei Stücken von Brecht, bis hin zu den britischen und amerikanischen Dramen. Ständig war es sein Ziel, jungen chilenischen Autoren die Chance zu bieten, ihr Talent zu beweisen. Er wurde als Theaterlehrer an die Universität berufen, besuchte auf der ganzen Welt Theaterfestivals, auf denen er auch selbstproduzierte Stücke präsentierte. Schnell wurde die indigene Bevölkerung des Landes zur Inspiration seiner Arbeit. Er wurde Assistent des berühmten Regisseurs Atahualpa an der ersten Theaterbühne in Chile und traf dort mehrere Male auf Salvador Allende.

Stets begleitete ihn sein musikalisches Verständnis. Er komponierte und schrieb mit leichter Feder, intuitiv, denn Notenlesen hatte er nie gelernt. Im Jahr 1962 verließ Victor die Musikgruppe "Cuncumén" und baute ein Jahr später auf Anfrage eines Kulturinstituts eine Schule für Folklore, an der er Volkstanz unterrichtete. Immer wieder trat er selbst mit seiner Gitarre auf, veröffentlichte eine erste Single. Mit dem argentinischen Volkslied "La cocinerita" und seiner Komposition "El cigarrito" landete die Platte in den Singlecharts. Es war die beliebteste Platte des Jahres. Seine nächste Veröffentlichung "Paloma, quiero contarte" wurde aufgrund seiner Doppeldeutigkeit gegenüber der Kirche zum Skandal. Außer einem beugten sich alle Radiosender der Zensur.

Chile und der Sozialismus

Weite Teile der chilenischen Gesellschaft hatten in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einen Wandel vollzogen. Einen Wandel nach links. Politische Ereignisse wie in Kuba, Vietnam oder der Tod Che Guevaras in Bolivien, hatten einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Kampagne für die Präsidentschaftswahl im September 1970 begann bereits ein Jahr vorher. Marxisten, Christen, Sozialdemokraten und Unabhängige schlossen sich unter dem Namen "Unidad Popular" zu einer Partei zusammen, um gegen die rechten Kräfte bestehen zu können.

Die "Unidad Popular" einigte sich auf ein Basisprogramm, das folgende Punkte enthielt:
die Nationalisierung der Bodenschätze Chiles, insbesondere der im US-amerikanischen Besitz befindlichen Kupferminen, die Verstaatlichung der Banken und der wichtigsten Monopolindustrien, freie medizinische Versorgung, Erziehung und angemessene Wohnungen für alle Bürger sowie die Schaffung einer unabhängigen chilenischen Außenpolitik, die eine Erneuerung der diplomatischen Beziehungen mit Kuba mit einschließen sollte.

Mitte Januar 1970 bestimmte die Unidad Popular Dr. Salvador Allende zum Präsidentschaftskandidaten ihrer Koalition. Die Universitäten und die chilenische Kulturträger sympathisierten stark mit sozialistischen Ideen. Eine Mischung aus Politik, Musik, Tanz und dem gesprochenen Wort ließ eine Massenbewegung entstehen, die nicht bereit war, auf die Umsetzung ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit zu verzichten. Es kam zu einer Vielzahl politischer Unruhen, Gewaltausbrüchen bei Demonstrationen, Kämpfe auf den Straßen Chiles. Es gelang den chilenischen Künstlern nicht nur Intellektuelle, sondern auch Arbeiter und Kleinbauern zu ihrem Publikum hinzuzugewinnen. Victor entdeckte die Gitarre als Waffe und setzte sie manchmal vor hunderttausenden Menschen ein. Er begriff seine Art der Musik als Teil der sozialen und politischen aufflammenden Bewegung. Victor wandte sich von der biographischen Schreibe ab. Nun thematisierte er die Armut und die Ausbeutung der "Arbeiterklasse". Er stellte seine Lieder in den Dienst des revolutionären Kampfes. Er selbst sagte dazu: "Ein Künstler muss ein authentischer Schöpfer und von daher in jeder Hinsicht ein Revolutionär sein?so gefährlich wie ein Guerillakämpfer, allein auf Grund seiner gewaltigen Fähigkeiten zur Kommunikation."
   






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