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Die Stimme der Menschlichkeit
KULTUR | LEBEN DES VICTOR JARA (15.10.2005)
Von Jörg Rostek
"Die Beste Schule für einen Liedermacher ist das Leben, aber das heißt das Leben von uns allen, ein gemeinsam gelebtes und nicht durch das Fenster eines Studios erblicktes Leben."

Michael Billig

Santiago de Chile im Jahre 2004. (c) Michael Billig

Victor hatte drei Geschwister: Maria, Georgina (Coca) und Eduardo (Lalo). Victor war der jüngste und kleinste. Er liebte es, wenn ihm seine Mutter, die als Sängerin von Volksliedern in der ganzen Straße bekannt und beliebt war, auf ihrer Gitarre Lieder spielte und sang. Gerne schlief er dabei ein.

Victors Eltern, Manuel und Amanda Jara, waren Bauern. Das Chile der damaligen Zeit war in Händen kolonialer Gutsherren, die durch ihre Herrenhäuser und feudalistischen Regeln das Landleben beherrschten. Victor und Lalo schliefen im Schlafzimmer der Eltern zusammen in einem Bett. Morgens war es manchmal sehr kalt, Schuhe hatten sie nicht, nur ojotas, selbst gefertigte Sandalen aus alten Autoreifen. Auch Kleidung war selten. Victors Familie war arm. Sein Vater Manuel war Inquilino, also ein Bauer mit einem kleinen Fleckchen Erde, auf dem er Mais, Bohnen oder Kartoffeln anbaute. Da das Land dem Patrón gehörte war Manuel dazu verpflichtet als Gegenleistung viele Arbeitsstunden auf dessen Land abzuarbeiten und dafür die Arbeitskraft von zwei erwachsenen Männern aufzubringen. Deshalb mussten ihm seine vier Kinder auf den staubigen migrigen Feldern zur Hand gehen. Das war billiger.

Um das Ein- und Auskommen zu sichern war die Familie auf Nebentätigkeiten angewiesen: sie sammelten Kräuter, stellten Weißkäse her und verkauften alles mit einigen Eiern auf dem Markt. Zusätzlich beherbergte die Familie Jara den örtlichen Dorflehrer gegen Untermiete. Victor hungerte oft.

Der Dorflehrer brachte Victor seine ersten Gitarrengriffe bei. Je älter Victor wurde desto häufiger stritten sich seine Eltern. Sein Vater begann zu trinken, begann seine Frau zu schlagen. Schließlich prügelte er auch seine Kinder. Viktor begann seinen Vater zu hassen. Ein Gefühl, das ihn nie wieder verließ. Er liebte seine Mutter.

In seiner Kindheit hörte Victor nachts durch sein Schlafzimmerfenster die Geschichten der Erwachsenen. Geschichten voller Fabelwesen, Tod und Teufel, gefüllt mit der ländlichen Tradition des Aberglaubens. Diese Geschichten machten ihm Angst. Obwohl die Familie Jara nicht sehr religiös war, spendeten sie nötiges Geld für die Jungfrau Maria. Auch das sollte Victor nie mehr vergessen und er fragte sich später, was man alles mit dem Geld hätte anfangen können. Denn die Kirche hungerte nicht.

Victor stellte ständig Fragen
Victor war ein hervorragender und beliebter Schüler, stellte ständig Fragen, wurde Schülervertreter. Die Schulaufführungen, bei denen die Schüler sich die Stücke selbst ausdachten waren seine Leidenschaft.

Nachdem Maria sich durch einen Unfall, denn sie wollte Feuer anfachen, mit kochendem Wasser übergoss, sollte sie ein Jahr in einem Krankenhaus in Santiago behandelt werden. Die Mutter Amanda, schwanger mit Roberto zog, um Maria nicht alleine lassen zu müssen, weil sie sich auf ihren Mann Manuel nicht verlassen konnte, in die Hauptstadt.

Santiago, ein feindlicher Großstadtdschungel und eine Qual für die das Landleben liebenden Kinder. Alle Kinder schliefen nun in einem Zimmer. Trotzdem versucht Amanda die angezogene Disziplin ihrer Kinder aufrechtzuerhalten. Sie schickt Victor und Lalo auf eine katholische Schule. Victor schloss seine Grundschulzeit mit den besten Zensuren ab.

Amanda wurde Köchin in einem kleinen Restaurant und die Familie bezog eine kleine darüber liegende Wohnung. Endlich mehr Platz. Sie schuftete dort wie eine Sklavin. Kämpfte tapfer. Nachdem sie genug Geld zusammengespart hatte, kaufte sie sich einen eigenen Marktstand. Dort verkaufte sie Mahlzeiten für Arbeiter. Amanda ackerte wie ein Vieh. Die vaterlose Familie Jara zog um in ein kleines Haus. Endlich ein kleines Häuschen. Seine Mutter hörte auf zu singen. Sie hatte dafür keine Zeit mehr. Deshalb weinte sie oft. Amanda liebte die Musik.

Nun verlässt Manuel die Familie auch offiziell. Victor begegnet ihm manchmal zufällig auf der Straße. So lernt Victor, dass man einen Vater haben kann und doch gleichzeitig nicht. Maria wird Krankenschwester und heiratet. Victor spielt manchmal auf der Gitarre seiner Mutter. Er spielt nach gehör und erfindet seine ersten Texte. Zufällig lauschte ein Gitarrenlehrer Victors Improvisationen. Er staunte über Victors hohe Aufnahmefähigkeit und sein Talent. Victor liebte die Musik.

Victor wollte Priester werden
Als Jugendlicher trat Victor der neugegründeten Christdemokratischen Partei Chiles bei.
Dort traf er Gleichgesinnte. Victor Mutter schickte ihn auf eine Wirtschaftsschule, da sie hofft, dass er ihr dadurch später im Geschäft zur Hand gehen kann. Victor hasste dieses Studium, sein heimlicher Traum war es Priester zu werden.

Victor Bruder Lalo wurde mit sechzehn Vater. Coca war schwanger geworden. Schließlich versucht sie sich umzubringen. Beide hatten sich gegen den Willen ihrer Mutter mit den Banden des Viertels eingelassen. Santiago war mächtiger als Amanda.

Im März 1950 rief man Victor aus dem Klassenzimmer, um ihm mitzuteilen, dass seine Mutter zusammengebrochen und an einem Schlaganfall gestorben war, während sie auf dem Markt Essen servierte. Für Victor war dies der Tod seiner Kindheit. Er war zu diesem Zeitpunkt beinahe fünfzehn Jahre alt. Victor fühlte sich für den Tod seiner Mutter verantwortlich.

Victor Jara ging nun von der Wirtschaftsschule ab und möchte eine Tischlerlehre beginnen, entscheidet sich dann aber doch, unter dem Einfluss eines Geistlichen, für die Priesterlaufbahn. Diese dauerte zwei Jahre. Victor brach das Priesterseminar im März 1952 ab, da er es ablehnte seine körperlichen Bedürfnisse mit Peitschenhieben unter eiskaltem Wasser zu unterdrücken. Seine Zweifel an der Religion waren stärker als sein Glaube. Zehn Tage nach seinem Austritt wurde Victor zum Militärdienst gebeten. Nun zog er als Achtzehnjähriger mit seinen Kameraden durch die Bars und Bordelle Santiagos. Erst im März 1953 verließ er das Militär. Als man Victor viele Jahre später über seinen Militärdienst befragte sagte er: "Ich glaube, der Berufssoldat, der Uniform trägt und Befehlsgewalt über eine Truppe besitzt, verliert das Bewusstsein für seine eigene Klasse."
   





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